
Nur noch 3.180 Minuten bis zum Anpfiff! Ronaldo kann es »kaum noch erwarten«, hört man. Und Dilma Rousseff, seit 2011 Brasiliens Staatspräsidentin, wird trotz immer heftigerer Proteste nicht müde, die Wichtigkeit der WM für ihr Land zu betonen: Sportevents als dankbares Vehikel, um den eigenen Aufstieg in unverhohlenem Größenwahn zu demonstrieren, und umso lauter von den wirklichen Dringlichkeiten des Landes abzulenken, – da ist sie nicht die Erste. 5,569 Milliarden Reais (8,5 Milliarden Euro) lässt sich Brasilien diese elitäre Image-Pflege kosten, mehr als die in Deutschland (2006) und Südafrika (2010) ausgerichteten Weltmeisterschaften zusammen.
Doch dieses gigantische Werbespektakel wird für die brasilianische Regierung immer mehr zum Bumerang. Wenn selbst Fußball-Ikonen wie Rivelino in den brasilianischen Medien beklagen, dass bei diesen Spielen jemand vergessen wurde, und auch Pelé sich jetzt wirklich »Sorgen, große Sorgen« macht, fragt man sich: Für wen sind diese Spiele in Brasilien eigentlich gedacht?
Im symbolträchtigen Stadion Maracanã, der brasilianischen Volksarena in Rio de Janeiro, in dem über Jahrzehnte soziale Unterschiede für die Dauer einer Spielzeit vergessen waren, warten jetzt unter anderem verglaste VIP-Logen mit Bad, Bar, Terrasse und speziellen Zufahrtsrampen auf die internationalen Fußball-Touristen. Selbst die billigsten Eintrittskarten zu 80 Reais (knapp 30 Euro) können sich viele Brasilianer, für die ihr Maracanã immer auch ein ausgelagertes Wohnzimmer war, nun nicht mehr leisten. »Die Stadien sind gebaut, es wurden Milliarden dafür ausgegeben. Nun muss nur noch das Land um sie herum geschaffen werden«, bringt es Denis Neves, Aktivist und Mitglied der Favela-Protestbewegung »Roncinha sem Fronteiras«, auf den Punkt und outet damit den absurden Zustand eines Landes, das sich im Schnelldurchlauf in die Zukunft befindet, dabei aber den Bezug zu seiner Realität verloren zu haben scheint.
Ich unterhalte mich mit Adela (79), einer ehemaligen Fabrikarbeiterin und Favela-Bewohnerin. Auch sie fühlt sich bei dieser WM wie im Exil. Im Maracanã, wo sie mit ihrer Familie früher ganze Wochenenden verbrachte, hat sie jetzt Angst, sich zu verlaufen oder vielleicht nicht mal mehr einen Blick auf den Ball zu erwischen. Stattdessen möchte sie demnächst lieber mal mit der neuen Seilbahn, die ihnen seit Kurzem über den Köpfen schwebt, bis auf einen der nächsten Hügel fahren. »Eine großartige Aussicht« soll man da oben haben, hat man ihr gesagt. Was man genau von dort aus sehen wird, kann sich Adela nicht wirklich vorstellen. »In Alemão leben glückliche Menschen« steht auf den Kabinen. Sie fragt mich, ob man diese glücklichen Menschen dann vielleicht von dort oben sieht oder noch besser: etwa selbst durch irgendein Wunder als glücklicher Mensch aus der Kabine steigt.
Selbst Touristik-Unternehmen bieten inzwischen Pakete an, in denen eine Fahrt mit der »Armen-Seilbahn« sowie ein Spaziergang durch die Favelas als attraktives Ausflugsziel angepriesen wird.
Auch sonst verspricht Brasilien den Fußball-Freunden aus aller Welt: »Offene Arme, absoluten Komfort und Sicherheit.« Für diese vierwöchige Gastfreundschaft im Fußball-Paradies mussten allerdings eine viertel Million Brasilianer im eigenen Land Platz machen. Sie wurden kurzerhand zwangsumgesiedelt, um die Zonen rund um die Stadien für die illustren Fußballgäste »zumutbar« zu machen. Zwölf viel zu große Stadien werden nach dem 13. Juli in die Zukunft gähnen.
»Wir sind vorbereitet, damit sich die Weltmeisterschaft ohne Bedrohungen der öffentlichen Ordnung entwickelt«, versichert Rousseff inzwischen immer nervöser. Die größten Sicherheitsausgaben der WM-Geschichte lassen das brasilianische Sport-Spektakel allerdings immer mehr zu einer militärischen Besatzung werden.
Unendlich viele Sondergesetze wurden kurzerhand für die WM verabschiedet und bereits bei den Demonstrationen im Vorfeld brutalst angewendet. Gleichzeitig gewährten diese der Fifa und den WM-Sponsoren vollkommen ungerechtfertigte Privilegien, wie Steuerfreiheit, den immer gleichen brasilianischen Bauunternehmen die Zuschläge bei den »öffentlichen« Ausschreibungen und eine pragmatische »Vereinfachung« bei Umweltverträglichkeitsprüfungen im Rahmen der WM. Mit demokratischen Grundrechten hat das wenig zu tun.
Das »Land der Zukunft« will sich betont trotzig in die eigene Zukunft kicken, scheint es, ist dabei aber bis an die Zähne bewaffnet. Da ist es doch bemerkenswert, dass sich dieses Jahr in Brasilien auch der Militärputsch von 1964 jährt. Fünfzig Jahre danach steht die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit in Brasilien, im Gegensatz zu Ländern wie Chile oder Argentinien, noch ganz am Anfang, was nicht zuletzt daran liegt, dass dort das Militär 1985 den Übergangsprozess der längsten Diktatur Lateinamerikas in die Demokratie eingeleitet hat, und deswegen jede Regierung bis heute erpressbar ist. Spürbar ist das nicht zuletzt in der jahrelangen Debatte um das vom Militär erzwungene, fatale Amnestie-Gesetz, das neben den Opfern auch die Täter der Diktatur bis heute juristisch schützt. Der Begriff der »bevormundeten Demokratie« (tutelary democracy) ist deswegen auch für Brasilien aktuell.
Dilma Rousseff, Tochter eines bulgarischen Kommunisten, ist selbst Folteropfer. Sie war es auch, die 2012 endlich eine erste nationale Wahrheitskommission ins Leben gerufen hat, die dieses Jahr ihren Bericht vorlegen soll. Dennoch beklagt Rosé Nogueira, Präsidentin der Menschenrechtsorganisation »Tortura Nunca Mais«, dass die meisten der ehemaligen Folterer bis heute hohe Ämter in Politik und Armee bekleiden, und nach wie vor keiner von ihnen gerichtlich belangt werden kann. So verwundert es nicht, dass auch der Polizeiapparat, der für die WM mit über 70.000 Mann zum Großteil aus dem Militär rekrutiert und aufgestockt wurde, jetzt nicht wirklich für einen deeskalierenden Umgang mit Gewalt vorbereitet und ausgebildet ist.
Vera Vidal, Psychologin und Vorreiterin in einem Pilotprojekt zur psychologischen Betreuung ehemaliger Folteropfer, und vor Kurzem Gast bei der deutsch-brasilianischen Veranstaltungsreihe »Nunca Mais« der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin, sieht es als eines der wichtigsten Ziele ihrer Arbeit, das jahrzehntelange Schweigen, das über den bezeichnenderweise »bleiern« genannten Jahren der Diktatur liegt, endlich zu brechen, und anzufangen, eine Erinnerungskultur in ihrem Land aufzubauen. Auch ihre Co-Referentin, Vera Karam de Queiri, Verfassungsrechtlerin und Mitglied der Wahrheitskommission in Paraná, spricht von einem Bewusstseinsprozess, der, ihrer Meinung nach, in Brasilien gerade erst einsetze.
Ich muss an Luiz Ruffatos flammende Rede (»Wir sind ein paradoxes Land«) zur Eröffnung der Buchmesse 2013 denken, in der er betonte, dass Brasilien – inzwischen siebtgrößte Wirtschaftsnation der Welt – weiterhin an dritter Stelle der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit stehe; auch der unglaubliche Boom der letzten Jahre habe zwar unendlich viele neue Konsumenten, aber noch keine Bürger geschaffen.
Doch diese Konsumenten gehen statt ins Maracanã inzwischen auf die Straße, um den Staat zur Verantwortung zu ziehen, nicht zuletzt für eine Fifa-Besatzung, die sie alle viel zu teuer zu stehen kommt. Diesem Paradox muss sich auch Rousseff stellen, die als ehemalige Guerillera bei den nächsten Wahlen Anfang Oktober sicherlich nicht nur als (gescheiterte) Fußball-Präsidentin in Brasiliens Geschichte eingehen möchte. Auch sie wird sich erinnern müssen, warum sie vor 40 Jahren drei Wochen Folter und zwei Jahre Haft auf sich genommen hat.