
Hebammenkunst für Erkenntnis zu sein und sodann das Sterben zu lernen, diese altgriechischen Aufgaben der Philosophie werden in ihrer Größe leicht unheimlich angesichts des bescheideneren Versprechens, einer Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen. Man darf also gespannt sein, was im Zeichen des performative turn und der Spektakelgesellschaft aus der Philosophie wird. Naheliegender Weise versucht man kollektiv, sich vorzustellen, wie es wäre, im fernen Cambridge eine Fliege vor der Nase eines großen Philosophen zu sein.
Am 13. Juni in Berlin ist der tödliche Lockstoff nicht das Licht, sondern die Nacht, nicht der Biergeruch (auf den Fliegen fliegen, aber eben keine Bienen), sondern ein kostenloser französischer Rosé nebst zerbröckeltem Praliné und natürlich das Versprechen, etwas ungeheuer Seltenes, höchst Fragiles und Köstliches geboten zu bekommen: „Über 60 namhafte Philosophen aus ganz Europa beleben das weite Feld der Philosophie und erschließen im Dialog mit Kunst bei Liveacts im Stundentakt völlig neue Ansätze und Wege.“ Solchermaßen angelockt, drängten sich dann auch die Massen, um teilzuhaben an der ersten „Nacht der Philosophie“ in Berlin, veranstaltet im 4.000 Quadratmeter großen Fliegenglas, dem Institut Français, von 19 Uhr abends bis 6 Uhr morgens, treppauf und treppab: Tuchfühlung und Überwältigung (durch Befremdung), Großzügigkeit (freier Eintritt, ein riesiges Angebot) und Distinktion – so lautete das bipolare Konzept der französischen Philosophin, Spinoza-Spezialistin und Performance-Künstlerin Mériam Korichi, die damit bereits in Paris und London auf Menschenfang war.
Während die zwölf Live-Performances sich in großer Ruhe und Langsamkeit („Faire le Gilles“ von Roberto Cantarella über Stunden) entfalten durften, waren die Vortragenden aus der Philosophie in ein enges zeitliches Korsett geschnürt. Ihre Freiheit bestand einzig darin, zu sprechen, worüber immer sie wollten. Argumente gerieten zu Lachnummern ihrer selbst, für Differenzierung fehlte Zeit und Lust. Nicht wenige beließen es bei einem vernuschelten Geraune über das kritische Moment des Hier-und-Jetzt-zum-1000sten-Mal-Behaupteten, andere sprachen müde davon, es handele sich eh um eine „Werbeveranstaltung“ und füllten ihre restliche Redezeit mit wohlgemeinten Lektürevorschlägen. (Man fragt sich sofort, für welches Honorar?) Doch Fragen waren keine zugelassen. So standen die eingeladenen Philosophen dann (als big name) wahlweise an dekorierten Imbisstischchen im Rampenlicht eines viel zu großen Plüschkinos oder (als kleineres Licht) am Mischpult eines viel zu kleinen Besprechungszimmers, allesamt verloren vor einem Publikum, das ihnen Angst zu machen schien. Hofften sie still auf eine unio mystica mit ihren stumm staunenden Zuhörern? Je später die Stunde, je dichter sich Körper an Körper drängte, je sicherer sich Erkenntnishungrige in den Dark Rooms der Intellektuellen-Videos (von Deleuze bis Enthoven) trafen, desto mehr erinnerte das Ganze an eine bald verzweifelte, bald komische Variante einer berühmten Berghain-Beschreibung: „Der Club will kein Bild von sich in der Außenwelt wieder finden. Seine Welt existiert in einem ewigen Frühmorgen. Hier steht das ungefilterte, nicht aufgezeichnete Erlebnis im Mittelpunkt.“ Spiegel sind im Berghain bekanntlich verboten. Denn wer hineinblickt, könnte sich fragen: Was mache ich hier gerade?
Ach – hätte doch wirklich der Echsenmann mit seinen Dornentatoos vor dem Ku’damm 211 gestanden, hätte mal genickt, mal flüchtig den Kopf geschüttelt.
Doch der Ausschluss funktionierte bei dieser „Nacht der Philosophie“ ganz ohne Türsteher. Ungleich subtiler, d.h. ungleich banaler: Nachdem man bis zur Erschöpfung nach französischen Philosophen gesucht hatte, die des Deutschen mächtig waren (und ausgerechnet Anne Sauvagnargues vergessen hatte), ging bei der Einladung der deutschen Pendants alles drunter und drüber. Die Befragten sprachen später von einem „erratischen“ und „aleatorischen“ Moment, binnen weniger Tage sei das Programm plötzlich mit deutschen Philosophen (also zufällig ziemlich vielen Männern) voll gewesen. Tja – und die Frauen?
Die deutschen Philosophinnen, also jene, die entweder des Französischen mächtig sind und/oder Foucault, Deleuze, Derrida, Serres, Merleau-Ponty, Rancière usf. erforscht und/oder übersetzt haben, oder wenigstens jene, welche – wie die Veranstaltung selbst – die Philosophie zur Performance Kunst und zur künstlerischen Forschung hin geöffnet (und nicht selten dafür Prügel bezogen) haben, oder einfach nur jene, die mutige eigene philosophische Wege beschreiten, waren mirakulöser Weise alle nicht eingeladen. Die einzige „namhafte“ deutsche Philosophin auf einem Lehrstuhl, die gefragt wurde, war Juliane Rebentisch – und sie war angesichts der bizarren Einladungspolitik gut beraten, abzusagen.
Wahrscheinlich hat es sich in der philosophischen Landschaft noch nicht herumgesprochen, dass es Webseiten gibt, die einen solchen Einladungssexismus brandmarken. Zum Glück gibt es eine wachsende Zahl von Wissenschaftler_innen (Männer wie Frauen!), die absagen, sofern das Geschlechter-Verhältnis ein lachhaftes ist. Nicht, dass die Veranstalter der „Nacht der Philosophie“ am Ende nicht selbst über ihre Liste erschraken: Bei der Videoauswahl beeilte man sich, möglichst viele französische Philosophinnen virtuell zu Wort kommen zu lassen. Doch das machte das Fehlen ihrer deutschen Counterparts nur umso deutlicher. Dabei gibt es sie, aus Fleisch und Blut und ja, sie sind gut. Weil dieser Beitrag auch eine Werbeveranstaltung ist, genauso wie die Lange Nacht, seien sie in alphabetischer Reihenfolge, wenn auch nicht erschöpfend, genannt: Kathrin Busch (UdK Berlin), Iris Därmann (HU Berlin), Anne Eusterschulte (FU Berlin), Petra Gehring (Darmstadt), Sybille Krämer (FU Berlin), Rahel Jaeggi (HU Berlin), Andrea Kern (Leipzig), Alice Lagaay (Bremen), Hilge Landweer (FU Berlin), Simone Mahrenholz (Manitoba/Berlin), Maria Muhle (AdK München), Michaela Ott (HfbK Hamburg), Eva Schürmann (Magdeburg), Ruth Sonderegger (Wien), Christiane Voss (Weimar).
Sie waren nicht eingeladen, nicht aus Kalkül, nicht aus Bosheit, sondern einfach, weil, wenn alles drunter und drüber geht, sich alte Mechanismen (der eine Professor fragt spontan einen anderen, männlichen Kollegen, der wiederum seinen Assistenten usf.) unreflektiert verselbständigen, fortschreiben und potenzieren. Ganz ohne bösen Willen, schlicht der Trägheit der Verhältnisse folgend. Auch das weiß eine „Wissenschaft vom Möglichen, sofern es möglich ist“, zumindest theoretisch: Realitätsentzug kann so banal sein. Was die wunderbare, die anbetungswürdige Philosophie dazu zu sagen hätte? Dass sie sich seit 2.500 Jahren für alles mögliche interessiert, nur nicht für das eine, was hier nottäte: Fortschritt.