Ich. Heute. 10 vor 8.

Das Problem der Deutschen mit den Kindern

© Deepa, CC0 1.0Vorsicht Kinder

Am schwarzen Brett unserer Kita, gleich beim Eingang, hängt ein Cartoon. Darauf ist ein Kind zu sehen, das von seiner Mutter in die Tagesstätte geschleift wird und sich dabei denkt: “Na warte! Es kommt der Tag, da steck ich sie ins Altersheim!”

Ich mag unsere Kita, ich fühle mich da sehr wohl – und geben wir es zu: es ist wichtig, dass sich Eltern wohl fühlen in ihrem Kindergarten. Kleine Kinder würden sich mit fast jedem Ort, wo andere Kinder und Spielsachen sind und es in befriedigenden Abständen Essen gibt, anfreunden, aber Eltern (zumindest unsere vielgescholtene Generation von Helikoptereltern) sind komplizierter. Sie müssen sich mit ihrem Kindergarten identifizieren, sie brauchen einen guten Draht zu den Erzieherinnen (und Erziehern), sie müssen das Gefühl haben, dass sie ihr Kind in gute Hände geben. Sonst machen sie Probleme beim Bringen und Abholen.

Ich also mag meine Kita, nur der Cartoon irritiert mich. Er hängt schon seit Ewigkeiten da und bringt in das kleine Idyll mit seinen Mini-Tischchen und Zwergstühlen, seinen tiefen Waschbecken und Klos für Leute, die einen Meter groß sind, seltsame moralistische Töne von Anklage, Schuld und Vergeltung hinein, die mir so gar nicht an den Ort zu passen scheinen.

Nur ein Witz, klar – aber irgendwo doch auch einer, der ziemlich viel über die deutsche Mentalität aussagt. Und mir meine Fremdheit, auch nach zehn Jahren in diesem Land, vor Augen führt. Denn diese negativen Töne, diese (Selbst-)Anklagen und Schuldgefühle, erstaunen mich beim Thema Kinder hier immer wieder: bei Müttern, die die Kindergartenbetreuung ihrer Kinder prima finden – aber trotzdem in die Teilzeit gehen, weil sie ihren Kindern mehr als einen halben Tag in der Kita nicht zumuten wollen – “das ist zu lang – der ist sonst abends ganz müde” (ich frage mich, was ein Zweijähriger abends sonst sein soll, wenn nicht müde…). Oder bei denjenigen, die erzählen, dass das mit der Fremdbetreuung eine feine Sache sei, und das mit dem Leben jenseits der Hausfrauenexistenz auch, aber ganz ohne Schuldgefühle gehe es eben leider nicht. Ja, warum eigentlich nicht?

Logisch gesehen setzen diese Schuldgefühle als Prämisse voraus, dass es für die Kinder besser wäre, zu Hause bei ihren Müttern (oder meinetwegen “neuen Vätern”) zu bleiben. Wie aber kommt man auf so eine Prämisse? Liebevolle Eltern, ja, präsente, zugewandte Eltern, ja – aber Vollzeiteltern? Ganz ohne Hilfe und Unterstützung von außen – sei sie familiär, sozial, kommerziell oder staatlich? Mir erschließt sich die Selbstverständlichkeit, mit der hierzulande Eltern sich selbst als das Beste für ihre Kinder auffassen, nur schwer.

Natürlich, es gibt lauter plausible historische Erklärungen, von der Vereinnahmung von Familie und Jugend durch die Nazis bis zum Systemkampf zwischen Ost und West, mit seiner starken Ablehnung jeder Form von außerfamiliärer “Kollektivität” im Westen und der Ambivalenz auch im Osten gegenüber staatlich gesteuerten Kitas.

Aber ob das als Erklärung reicht, in einem Land, das sonst gerne für jedes Problem den Staat in die Pflicht nimmt? Wahrscheinlich gibt es noch andere Faktoren, diffusere, weniger klar benennbare als die historisch bekannten ideologischen Grabenkämpfe. Denn auffällig sind auch andere Besonderheiten beim deutschen Umgang mit Kindern.

So steht der eigenartigen Scheu von Eltern hierzulande, Kinder in die Hände von Menschen außerhalb der direkten Kleinfamilie zu geben, umgekehrt eine seltsame Ungewilltheit der Gesellschaft als Ganzer gegenüber, mit Kindern überhaupt in Kontakt zu treten. Das kann man in jedem Café erleben, das man mit Kindern betritt, am stärksten aber fällt es mir immer dann auf, wenn ich aus einem anderen Land, beispielsweise den USA, Frankreich, Israel, wo sich gefühlt jeder Zweite intuitiv auf Augenhöhe mit herumrennenden Kindern begibt, nach Deutschland zurückkehre. Im Flugzeug geht es meistens noch, aber spätestens am Berliner Flughafen ist der Zustand erreicht, wo niemand mehr die Kinder ansieht, anlächelt, mit ihnen spricht. Kinder von anderen Leuten, so scheint es, sind deren Privatgegenstände, von denen man sich tunlichst zivilisiert abzuwenden hat.

Ist diese kollektive Scheu vor anderer Menschen Kinder auch ideologisch begründet? Oder wurzelt sie schlicht darin, dass es in einem vergleichsweise kinderarmen Land an Übung beim Umgang mit Kindern fehlt?

Schließlich ergibt sich die seit Jahren besorgt zitierte Zahl von nur statistisch 1,53 Kinder pro Frau (definitiv festgestellt beim Jahrgang 1965, der seine “Geburtenbiographie” abgeschlossen hat) nicht so sehr daraus, dass die Deutschen wenig Kinder haben, sondern vor allem daraus, dass es sehr viele Menschen gibt, die gar keine Kinder haben. Denn die weit interessantere Zahl als die statistisch 1,53 Kinder pro Frau ist ja diese: 21,7%. Das ist der Anteil an Frauen der Jahrgänge 1964-1968, die kinderlos geblieben sind. Für Westdeutschland sind es für diese Gruppe sogar 24%. Zwischen einem Fünftel und einem Viertel der Bevölkerung hat also schlicht gar keine Erfahrung mit eigenen Kindern. So verständlich jeder subjektive Nicht-Kinderwunsch auch ist (schließlich bietet das Leben in der Moderne viele Wahlmöglichkeiten, und nicht alle haben mit Windelwechseln zu tun): durch ihre schiere Quantität prägt Kinderlosigkeit die deutsche Gesellschaft entscheidend.

Die Anzahl der Kinderlosen steigt seit einigen Jahren den Statistikern zufolge nicht weiter an, mittlerweile scheint sie sogar wieder ein wenig zu sinken. Junge Frauen haben offensichtlich den Eindruck, dass Kinderkriegen und ein Leben jenseits von Haus und Herd sich nicht mehr völlig ausschließen. (Auch wenn objektive soziologische Untersuchungen nach wie vor das Kinderkriegen als das große Karriereknick-Ereignis bei Frauen ausmachen.)

Gewiss haben die entschiedenen Vorstöße der Familienpolitik in den letzten Jahren die Lage verbessert. In der Scheu, mit Kindern in Kontakt zu treten, und dem Unbehagen, sie außerhalb der Kleinfamilie betreuen zu lassen, aber bleibt das Problem bestehen, dass Kinder immer als inkompatibel mit irgendetwas angesehen werden müssen. Solange Kinderkriegen in Deutschland mit Schuldgefühlen und Abneigungserlebnissen verbunden bleibt, werden noch so viele “Vätermonate” und Kita-Bauten nichts an der Kinderfeindlichkeit dieses Landes ändern.

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