Ich. Heute. 10 vor 8.

Heute – morgen – gestern

© Madeleine ThienVictoria Park in Hongkong, 4. Juni 2014: Warten auf den Beginn der Nachtwache

Hongkong, vor vier Wochen: Ich suchte mir ein Plätzchen in der Mitte des Victoria Parks. Zum Einbruch der Dunkelheit sollten über 180.000 Menschen kommen, um der Tiananmen Proteste 1989 und ihrer Niederschlagung zu gedenken. Neben mir ein Dutzend alter Damen, das mit schwarzen Fächern wedelte, die die Aufschrift trugen: 毋忘六四 („Vergesst den 4. Juni nicht!“).

Vor über 25 Jahren hatten die Demonstrationen in Peking begonnen. Zunächst waren die Menschen auf die Straße gegangen, um dem 1987 wegen seiner Reformorientierung gestürzten Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas Hu Yaobang, der am 15. April verstorben war, die letzte Ehre zu erweisen. Am Morgen der offiziellen Trauerfeier am 22. April erklommen dann drei Vertreter der Studentenschaft die Stufen der Großen Halle des Volkes, knieten dort nieder und reckten eine Petition in die Luft. Hinter ihnen, auf dem Platz, standen Zehntausende Studenten und sahen fassungslos zu. „Steht auf, steht auf!“, riefen sie, viele von ihnen weinten. „Müssen wir als Bettler kommen, um zu unseren Führern zu sprechen?“ Vierzig Minuten lang warteten die drei auf ihren Knien. Sie nicht anzuhören, war ein kolossaler Fehler der Regierung. Denn von diesem Moment an nahm die Geschichte ihren Lauf.

Die Tiananmen Bewegung brachte in den folgenden sieben, fiebrigen Wochen nicht nur Studenten, sondern die chinesische Nation auf den Platz: Demonstrationen von bis zu einer Million Menschen jeden Tag, 3100 Studenten im Hungerstreik. Unabhängige Gewerkschaften entstanden. Niemand glaubte, dass die Volksbefreiungsarmee ihre Gewehre auf die Demonstranten richten würde, aber in der Nacht des 3. Juni tat sie es doch. Unter den Toten befanden sich Schüler, die sich den Panzern in den Weg gestellt hatten. Peking versank in Trauer. Der Idealismus verschwand. „Ach, mein geliebtes Land“, schrieb der Dichter Bei Dao, „warum singst du nicht mehr?“

Ich war damals 14 Jahre alt. Meine Großeltern sind in China geboren, ich bin in Kanada aufgewachsen. Als ich die Ereignisse im Fernsehen sah, erkannte ich erstmals, wie mein Leben auch hätte aussehen können.

Letztes Jahr, zum 24. Jahrestag des Massakers, war ich nicht in der Sonderverwaltungszone Hongkong, sondern in Shanghai. Ich ging zum Volkspark, aber außer zahllosen Polizeiwagen war dort kein Mensch, die Leere verstörte mich. Zurück in meiner Wohnung, suchte ich im Internet die Wörter „heute“, „morgen“, „gestern“, aber die Suchmaschine spuckte nur leere Seiten aus: auch diese Wörter – verboten.

Die Erinnerung an Tiananmen ist hartnäckig, und der behördliche Umgang mit ihr erbarmungslos. Jedes Jahr zum 4. Juni geht das Regime mit Verhaftungen und Überwachungsaktionen gegen die Erinnerungen vor. Auch wenn das brutale Vorgehen Deng Xiaopings 1989 „nur“ 202 namentlich bekannte Menschenleben kostete (die Zahl liegt wahrscheinlich höher), bleibt das Thema virulent. Ganz im Gegensatz zu den 40 Millionen Todesopfern, die Mao’s Kampagnen gefordert hatten. Dieser Opfer wird kaum gedacht – weder in China noch im Ausland.

Die chinesische Regierung will nicht nur die Erinnerung auslöschen, sondern die Trauer selbst. Denn es ist immer die Trauer, die die Zusammenstöße provoziert: 1976, als die Pekinger auf dem Tiananmen Platz um einen anderen Führer weinten, Premierminister Zhou Enlai, konfiszierten die Behörden alle Blumen, woraufhin die Menschen den Platz stürmten: „Gebt uns die Kränze zurück!“ 1989 war der Platz voll von handgefertigten, weißen Seidenpapier-Chrysanthemen, der chinesischen Trauerblume.

Die Mütter der Toten von Tiananmen haben nur vier Forderungen. Die erste lautet: „Das Recht, friedlich in der Öffentlichkeit zu trauern.“ Es wird ihnen von der Regierung verweigert. So bedrohlich ist Trauer.

Da sie aus der historischen Vergangenheit herausgeschnitten wird, verwandelt sich die Trauer in Fiktion: von Ja Jians Peking Koma über Yiyun Lis Kinder than Solitude, über Zhu Wens My Little Brother’s Performance bis hin zu Luo Yes Film Summer Palace. Das Regime kann Daten und Zahlen auslöschen, Tränen unterdrücken, aber wie kann es die Rückkehr der Trauer in die Fiktion verhindern, in Literatur und Kunst, wo gestern heute ist und morgen jetzt?

Im Victoria Park, im kühlenden Windhauch der „Vergesst nicht den 4. Juni!“-Fächer, dachte ich an meine Mutter, die 2002 starb, ohne das Land ihrer Eltern gesehen zu haben. Als ich 2003 zum ersten Mal nach China reiste, wollte ich für sie Blumen auf dem Tiananmen Platz niederlegen. Es war nicht erlaubt. Aber ich gebe nicht auf.

Im Victoria Park wartete neben mir auch eine Gruppe von Schulmädchen, die 1989 noch nicht einmal geboren waren. Sie saßen auf dem heißen Asphalt und machten ihre Hausaufgaben. „Warum seid Ihr gekommen“, fragte ich sie. „Um zu erinnern und unseren Respekt zu zeigen“, sagte eine. „Weil sie wie wir waren“, sagte eine andere. Und sie fragten auch mich, warum ich gekommen sei: Weil ich 1989 in ihrem Alter war und nie vergessen habe.

1989 erhoben sich die Studenten – bewusst oder unbewusst – auch um einer früheren Generation willen, deren Leben von Maos Kampagnen zerstört worden waren: einer Generation, deren Millionen Tote aus der Erinnerung gelöscht sind. Die Studenten fragten damals nach einer anderen, besseren Zukunft für sich. Aber diese Frage nach der Zukunft war von der Vergangenheit – von ihren Eltern und Großeltern – vorformuliert.

Wie Bei Dao vorausschauend 1986 schrieb: „Natürlich kennt niemand das Morgen / das Morgen beginnt mit dem neuen Tag, wenn wir schlafen / Erinnert Euch an mein Wort: nicht alles wird vergehen.“

Übertragung aus dem Englischen von Marion Detjen

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