Als weiße Europäerin mit feministischem Selbstverständnis widerfährt mir ein Schauder beim Anblick von Burka- oder Niqabträgerinnen. Viele habe ich bisher noch nicht live gesehen, vielleicht zwei oder drei in Berlin Neukölln – aber die schwarze, stumme Gestalt, gleich einem Gespenst, das die Frau als das „Andere“ markiert, erschreckt mich. Doch von nun an ist es zulässig, die bedeckte Muslimin davon abzuhalten, mir einen Schreck einzujagen.
Pinkes Fahrrad
Denn letzte Woche verteidigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, das 2010 von der französischen Nationalversammlung erlassene Niqab-Verbot als rechtens gegen eine muslimische Klägerin. Der französische Staat begründete das Verbot mit der Wahrung der Geschlechtergleichheit, der öffentlichen Sicherheit und der Menschenwürde. Doch die ausschlaggebende Rolle für das jetzige Urteil spielte das Argument, die Burka würde die in Europa geltenden Normen des Zusammenlebens verletzen. „Einzelne Bürger“, so der Gerichtshof, könnten es ablehnen, im „öffentlichen Raum Praktiken oder Haltungen zu sehen“, die den „bestehenden Konsens“ über das Gemeinschaftsleben infrage stellen.
Das Urteil schützt also mich. Diejenige, die sich durch den Anblick der Verschleierten verstört fühlt. Es soll mein Gerechtigkeitsempfinden schützen, basierend auf dem hiesigen gesellschaftlichen Konsens. Die Sitte der europäischen Mehrheit, die durch die Vermummung offenbar verletzt wird. Kann ich nun beruhigt sein? Als Feministin zufrieden, da der Unterdrückerstoff nicht mehr sichtbar ist?
Absurd scheint zunächst, dass hier die „Opfer des Patriarchats“ selbst kriminalisiert werden, in dem sie sich als Burkaträgerinnen im öffentlichen Raum strafbar machen. Bezeichnenderweise bewegt sich in einer ähnlichen Logik auch die Debatte um das schwedische Sexkaufverbot – auch dort sollen Frauen „befreit“ werden, indem das, was sie tun illegal wird. So unterschiedlich diese beiden Gruppen „Sexarbeiterinnen“ und „Burkaträgerinnen“ auch sein mögen, sie verkörpern beide ein abweichendes weibliches Verhalten gegenüber unserem Gemeinsinn. Dass die Burka vielleicht freiwillig getragen und der Sex vielleicht freiwillig verkauft wird, wird nicht ernst genommen. Denn aus unserer westlichen moralischen Wertesicht heraus kann in beiden Fällen nur Zwang im Spiel sein, worauf hin sich ein Staat veranlasst fühlt, durchzugreifen. Um den Frauen ihre Freiheiten anzuerziehen.
Mit meiner Niqab
Das Zusammenleben wird nicht einfacher mit Illegalisierten, warnen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International bereits. Sie fürchten, durch das Verbot werden kulturelle Ressentiments und Gräben vertieft und die ohnehin bestehende Distanz und Isolierung von verschleierten Frauen – ob mit Kopftuch, Niqab oder Burka – gegenüber der Mehrheitsgesellschaft durch weitere Diskriminierung vergrößert. Nicht zuletzt, weil es eine sehr kleine Zahl von Menschen betrifft, ist es ein Spaltungsakt, der sich schließlich als kontraproduktiv erweisen könnte.
So scheint das Verbot weder für die betroffenen Frauen, noch für das gemeinsame Zusammenleben förderlich zu sein – wird es aber stattdessen meinem feministischen Anspruch gerecht? Wohl kaum. Die Straßen werden lediglich von muslimischen Zeichen des Patriarchats gesäubert; gleichzeitig bleiben wir blind gegenüber Sexismus in der medialen Öffentlichkeit oder dem allgegenwärtigen Schönheitsimperativ, dem sich die meisten von uns zwischen Freiwilligkeit und Zwang (ähnlich wie die Schleiertragenden) unterwerfen. Wir projizieren also lediglich unsere eigenen ungelösten Widersprüche auf die Lebensweisen von Minderheiten und tragen sie auf dem Rücken migrantischer und damit ohnehin benachteiligter Frauen aus.
Diese Doppelmoral, die die Frauenfrage für die jeweils opportunen Interessen instrumentalisiert, steht bezeichnenderweise in einer imperialen und kolonialen Tradition. Militärische Interventionen oder restriktive Migrationspolitiken werden gerne mit dem Schleierdiskurs begründet – und das bereits seit dem 17. Jahrhundert. Im Zuge des Wunsches der Europäer nach politischer und kultureller Einflussnahme in den Kolonien stellte die weibliche Vermummung ein widerständiges Hindernis dar. So schreibt der französische Kolonialismuskritiker Franz Fanon 1959 in Dying Colonialism: „Die Frau, die sieht, ohne gesehen zu werden, frustriert den Kolonialisten. Es gibt keine Gegenseitigkeit. Sie ergibt sich nicht, sie gibt sich nicht hin, und sie bietet sich nicht an.“
Wenn Gesetze die Normen und den Konsens des Zusammenlebens einer Gesellschaft widerspiegeln, bleibt festzustellen, dass das Vollschleierverbot im heutigen Europa ein gesellschaftliches Klima bestätigt, in welchem rechtspopulistische Parteien, die Ratlosigkeit vor wachsenden Migrationsströmen, Islamophobie und Xenophobie im Aufschwung sind – und die jahrelange Arbeit mit interkulturellen Ansätzen untergraben.
Mit Tante Normie
Und wer schützt mich vor so einem Konsens rassistischer Ressentiments? Schließlich sind Menschen- und Grundrechte auch dafür da, das Recht von Minderheiten zu schützen, selbst wenn der Gemeinsinn sie anstössig findet. Die Richter scheinen ein schweres politisches Klima gespürt zu haben. Es ist bizarr, dass hier der Wahrung von moralischen und politischen Stimmungen so ein großes Gewicht zugesprochen wurde, sodass dabei die theoretisch universellen Grund- und Menschenrechte weniger wiegen. Der Islamische Zentralrat der Schweiz warnt zurecht davor, dass „auf der gleichen Grundlage nicht nur der Gesichtsschleier, sondern praktisch jede öffentlich wahrnehmbare Praxis oder Haltung – sofern jene nicht in die Schnittmenge des Wertekonsens einer Gesellschaft passt – staatlich eingeschränkt werden kann“. So könnte ab jetzt in den entsprechenden Ländern staatlich repressiv gegen Homosexuelle vorgegangen werden, weil ihre dort als sündhaft empfundene Liebespraktiken dem mehrheitsfähigen homosexuell feindlichen Wertekanon widersprechen.
Ein Gemeinsinn, der Minderheiten und das Recht auf abweichendes Verhalten verletzt, ist nicht in meinem Interesse. Meine Kritik gegen den Vollschleier würde ich gerne mit Musliminnen in Europa diskutieren – einer feministischen Methode folgend, die die Betroffenen sprechen lässt, denn sie sind stets die Expertinnen ihrer selbst. Aber von der Legitimierung des Verbots zugunsten eines neuen fremdenfeindlichen europäischen Konsenses, der meiner sein soll, möchte ich mich distanzieren: nicht in meinem Namen.