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Frauen schreiben. Politisch, poetisch, polemisch. Montag, Mittwoch, Freitag.

Wenn Gesetze nicht angemessen und menschlich sind

| 10 Lesermeinungen

Eine neue Debatte über das Asylrecht ist wichtig, notwendig und überfällig. Wahrscheinlich ist, dass es weder in Deutschland noch in Europa dazu kommen wird.

In Deutschland wird diese längst überfällige Debatte um das Asylrecht nicht stattfinden, weil es die Politik nicht zulässt. Eine Koalition, die so handstreichartig wie in der vorletzten Sitzung vor der Sommerpause geschehen, Zuwanderungsreformen beschließt, kaum dass die Flüchtlinge ein paar Kilometer Luftlinie entfernt vom Dach der Gerhart-Hauptmann-Schule herunterverhandelt worden sind, ist nicht debattenfähig. Eine Dreiviertelstunde Diskussion hatte man für den eilig eingebrachten Zusatzpunkt sechs über das Gesetz zur Einstufung sicherer Drittstaaten und der Erleichterung des Arbeitsmarktszugangs für Asylbewerber veranschlagt. Diese Zuwanderungsreformen wurden vorbei am hilfesuchenden Flüchtling oder dem engagierten Bürger beschlossen.

© Michaela Maria MüllerTreibgut auf Lampedusa

Dabei haben die Menschen mit ihren Protesten und Solidaraktionen bewiesen, dass sie bereit sind, sich mit dem Thema neu auseinanderzusetzen – und tun es noch. Nur hat der Widerspruch und der zivile Ungehorsam dort, wo die Entscheidungen getroffen werden, zunächst nichts bewirkt. Menschen werden qua der Dublin-Verordnung weiter durch Europa geschoben – und daran wird sich in den nächsten fünf Jahren vermutlich nichts ändern, betrachtet man den Ausgang der Europawahlen im Mai, der mit einem bisher nicht gekannten Rechtsruck auskam.

Frankreich und Großbritannien, zwei der einflussreichsten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, werden nun im Straßburger Parlament von einer rechten Mehrheit angeführt. Dieser Rechtsruck im Europäischen Parlament wird nicht ohne Folgen für die Flüchtlingspolitik bleiben, denn dort werden die Weichen gestellt für einen menschlichen oder unmenschlichen Umgang mit Asylsuchenden und Flüchtlingen.

Was geschehen könnte, beschreibt der italienische Journalist Fabrizio Gatti. Ein rechts gewandter italienischer EU-Politiker ließ nach einer Inspektion des Erstaufnahmelagers Lampedusa verlauten: „Ich habe keinen verwahrlosten Ort vorgefunden, an denen Menschenrechte verletzt werden, sondern eine tadellose Verwaltung und einwandfreies Verhalten seitens der zivilen, militärischen und polizeilichen Kräfte, die mit äußerster Opferbereitschaft und größtem Engagement ihre Pflicht erfüllen.“

Was er nicht erwähnte: Das Lager wurde vor dem Besuch der Delegation der EU-Parlamentarier geräumt, nahezu alle Flüchtlinge ausgeflogen, die Räume gründlich gesäubert und desinfiziert. Gatti, der sich als vermeintlicher Flüchtling Bilal 2006 in das Aufnahmelager Lampedusa eingeschleust hatte, berichtete anderes: Von menschenunwürdigen Zuständen im zumeist hoffnungslos überfüllten Lager, in dem Soldaten die Flüchtlinge erniedrigten und hygienisch unhaltbare Zustände herrschten. Mittlerweile gibt es geprüfte Videoaufnahmen, die das Personal des Lagers beim Desinfizieren nackter Insassen in einer Halle zeigen. Europa muss sich seinen Flüchtlingslagern mit diesen unhaltbaren Zuständen stellen. Und es sind viele. In Süditalien heißen sie Agrigent, Cassino, Crotone, Caltanissetta oder Lampedusa – um nur einige zu nennen.

Als Papst Franziskus im Sommer letzten Jahres die Insel Lampedusa besuchte, mahnte er an, dass die Globalisierung uns gleichgültig gemacht habe gegenüber den Schicksalen der Flüchtlinge. Das stimmt nicht. Wenn es vor unseren Augen passiert, lassen uns ihre Schicksale nicht mehr kalt. Die Fischer auf Lampedusa helfen: Sie ziehen Ertrinkende in ihre Boote, obwohl sie sich strafbar machen. Bürger in Osnabrück helfen: Sie verhinderten in den letzten Wochen bislang acht Abschiebungen mit Blockaden vor der Flüchtlingsunterkunft. Der bayerische Gemeinderat hilft: Er sammelt im Ort Geld für die Kaution eines inhaftierten Flüchtlings – und ist erfolgreich. Die Unterstützer der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ helfen, ebenso wie die meisten der Demonstranten gegen die Räumung der Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg. Aber die Proteste und der zivile Ungehorsam haben bislang allenfalls zu kurzfristigen Lösungen geführt.

An sich sind die Dublin-Gesetze schon jetzt so kurzsichtig wie unzureichend: Ein Flüchtling kommt in einem europäischen Land an und stellt dort einen Asylantrag. Dieses Land ist nun verantwortlich für ihn, Fingerabdrücke werden in der Eurodac-Datenbank gespeichert. Fortan ist nur dieser Mitgliedsstaat berechtigt den Antrag zu prüfen. Doch so unterschiedlich Europa ist, so unterschiedlich sind auch die Asyl- und Sozialstandards in den einzelnen Ländern. Eine Überstellung nach Italien, Griechenland oder Rumänien etwa bedeutet für den Flüchtling entweder Obdachlosigkeit oder die Einweisung in Lager, die zumeist von privaten Betreibergesellschaften geführt werden und eher einem schlecht geführten Gefängnis ohne ausreichende medizinische Versorgung („Wir haben nur Aspirin.“) gleichen.

Dann gibt es seit Herbst letzten Jahres noch einen Zielkonflikt: Nach dem Tod von fast 400 Flüchtlingen im Mittelmeer wurde im Herbst letzten Jahres die Operation „Mare nostrum“ ausgerufen. Die italienische Küstenwache und die Marine helfen nun verstärkt, Flüchtlinge zu bergen, was dazu führt, dass Menschenhändler noch mehr Flüchtlinge auf noch schlechter ausgestatteten Booten auf die Reise schicken. „Mare nostrum“ steht im Gegensatz zur Arbeit der Grenzschutzbehörde Frontex, die die europäischen Grenzen sichern soll. Vielleicht sollten wir uns eingestehen, dass es keine saubere Grenzsicherung gibt und noch nie gegeben hat. Und dass es weiter illegale Push-Backs geben wird, die schon so vielen Menschen das Leben gekostet haben. Auch die Fremdenfeindlichkeit wird sich nicht wegdiskutieren lassen.

Es gibt kein europäisches Bewusstsein für die Flüchtlingsfrage. Es gibt eine Reihe von Menschen, die helfen und unterstützen. Deshalb ist eine neue Debatte um das Asylrecht in Deutschland und Europa notwendig. Und es ist von zentraler Bedeutung, dass dieses Recht künftig beachtbar gestaltet wird, wenn man erreichen will, dass die Gesetze befolgt werden. Denn Gesetze müssen angemessen und menschlich sein.


10 Lesermeinungen

  1. MF87 sagt:

    Tote ohne Namen //EU -Sprache als Mittel zur Ausgrenzung
    Stichworte: Islam, Angst, Arbeit/Asylrechtdebatten als reine Formsache.
    Oder was seit ihr Flüchtlinge wert!?
    Ein Denkmuster über Jahre hinfortgeerbt .
    Ja, in einem Rechtsstaat darf es keine rechtlosen Menschen geben, es gibt jedoch zu bedenken, man möge teilweise Rücksicht auf sämtliche Flüchtlinge nehmen, aber Flüchtlinge gelten als Wesen einer niedriger Stufe.
    Manchmal bringt ein “kleines” Ereignis (Suicide) eine vorgefasste Meinung ins Wanken.(zeitbeschränkt)
    Aber es gibt immer z.B. Sozialarbeiter(innen) die meistens lautlos sich tatsächlich kümmern!
    Im Übrigen: bitte nicht stören.

  2. ThorHa sagt:

    Ich würde die Debatte nur zu gerne führen. Allerdings nur und ausschliesslich dann,
    wenn die Befürworter offener Grenzen von ihrem hohen moralischen Ross runterkommen und einige wenige ganz praktische Fragen beantworten:
    1) Wieviele Flüchtlinge pro Jahr soll Deutschland aufnehmen?
    2) Wieviele Flüchtlinge erwarten wir realistischerweise woher, wenn Grenzen aufgemacht werden?
    3) Was machen wir mit den Flüchtlingen, die unsere in 1) definierte Aufnahmegrenze überschreiten?

    Auf alle drei Fragen habe ich noch niemals und nirgendwo eine Antwort von denen gesehen, die Grenzen aufmachen wollen. Logisch, die Antworten wären unangenehm und man müsste vom hohen Ross runterkommen.

    Da ist es dann viel einfacher, mit dem gestreckten Zeigedfinger eine Asyldebatte zu fordern. Die man selber eigentlich gar nicht führen will, zumindest nicht seriös. Und dann bleibe ich doch lieber bei der bestehenden Regelung. Die uns ja noch immer mehr als hunderttausend Flüchttlinge beschert, pro Jahr.

    Angemessen und menschlich. Hört sich das nicht schön an? Nur – solange die Antwort auf die Frage 1) nicht “unbegrenzt” bzw. die auf die Antwort 3 nicht “trotzdem aufnehmen” lautet, werden (!) weiter Menschen bei dem Versuch umkommen, zu uns ins gelobte Land zu kommen.

    Nein, die Befürworter offener(er) Grenzen wollenkeineswegs eine Debatte führen. Sie möchten die durch Medien und Politik herbeigeführte Chance, allen Gegnern einer Grenzöffnung öffentlich Rassismus, Fremdenfeindlichkleit und Unmenschlichkeit unterstellen zu dürfen. Verstehe ich. Warum Politiker daran interessiert sein sollten, verstehe ich nicht.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

    • MF87 sagt:

      Erfahrung und Dichtung//
      Meine Eltern waren auf der Flucht,ja und da gab es Flüchtlingspolitik (Evian). Aber wie immer auch Menschen: hilfsbereit! =================

      Der Gast
      ,Lange vor Abend
      kehrt bei dir ein,der den Gruss getauscht mit dem Dunkel.
      Lange vor Tag
      wacht er auf
      und facht .eh er geht ,einen Schlaf an,
      einen Schlaf ,durchklungen von Schritten:
      du hörst ihn die Fernen durchmessen
      und wirfst deine Seele dorthin>

      Paul Celan,Die Gedichte,Suhrkamp taschenbuch 3665

    • Stefanie Lohaus sagt:

      Ich lese den Kommentar gar nicht als ein Plädoyer für offene Grenzen, sondern für eine menschliche und durchführbare Gesetzgebung. Aber vielleicht antwortet Frau Müller darauf dann noch selbst.

    • ThorHa sagt:

      Nicht vollständig offene Grenzen UND eine vollständig "menschliche" Gesetzgebung sind
      im Bezug auf Flüchtlinge aller Art eine contradictio in adjecto. Eine Illusion.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

    • mmueller sagt:

      Sehr geehrter Herr Haupts! Nein, ich plädiere nicht für offene Grenzen. Es geht mir mehr darum, dass die Politik die bestehende und m.E. unzureichende Ausgestaltung diskutiert. Herzliche Grüße, Michaela Müller

    • ThorHa sagt:

      Dann habe ich Ihren Beitrag falsch gelesen, kann mich nur damit entschuldigen, dass Sie mir das
      mit Themen und Tonlage ziemlich einfach gemacht haben.

      Also nochmal gelesen. Hmmmm. Wenn nicht über offene Grenzen – worüber genau also sollte in einer deutschen Asyldebatte gesprochen werden? Dazu fehlten mir jetzt ein paar konkrete Anregungen.

      Gruss,
      Thorsten Haupts

    • mmueller sagt:

      Sehr geehrter Herr Haupts,

      in Deutschland sollte man darüber sprechen, welche Rechte man den Flüchtlingen während des laufenden Verfahrens wann zugesteht (Residenzpflicht, Arbeitserlaubnis, Sprachkurse). Es kann nicht sein, dass ein Flüchtling jahrelang isoliert von der Gesellschaft, in der er sich befindet, leben muss. Das ist eine unglaubliche psychische Belastung – zusätzlich zu dem, was er/sie schon auf der Flucht erlebt hat.

      In Europa stehen die Länder mit einer Außengrenze (z.B. Italien, Griechenland) vor dem Problem, den vielen Menschen nicht mehr gerecht werden zu können. Es herrschen unzumutbare Zustände in diesen Lagern. Wenn Europa sich auch als Wertegemeinschaft begreift, muss es die menschenwürdige Behandlung der Flüchtlinge einbeziehen. Die europäische Grenzschutzagentur “Frontex” kann dazu bislang nichts oder nur sehr wenig beitragen. Man muss jetzt darüber sprechen, sich verständigen.

      Herzliche Grüße, Michaela Müller

  3. tberger sagt:

    Vorschlag
    Meine Frau ist Russin. Bevor wir verheiratet waren, ist sie mit einem Touristenvisum nach Deutschland gekommen. Dafür musste ich eine Verpflichtungserklärung abgeben. Damit habe ich mich verpflichtet, für alle Kosten aufzukommen, die sie hier in Deutschland verursacht – von der Ernährung über Krankheitskosten bis hin zu Straftaten.
    Man sollte jedem, der für ein liberaleres Asylrecht ist, die Möglichkeit geben, eine solche Verpflichtungserklärung abzugeben und damit den Menschen die Einreise zu ermöglichen. Damit kann jeder, der will, etwas für die Menschen tun; wer nicht möchte, der wird nicht dazu gezwungen.

    • mmueller sagt:

      Sehr geehrter Herr Berger, das halte ich für einen guten Ansatz. Die Patenschaftsprogramme, die es in den Städten und Kommunen immer häufiger gibt, tragen auch viel zur Verständigung und zum Kennenlernen bei. Herzliche Grüße, Michaela Müller

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