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Ende gut, alles gut? 100 Jahre Erster Weltkrieg, 25 Jahre Mauerfall

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© By Franz von Pocci (https://epub.ub.uni-muenchen.de/12420/) [Public domain], via Wikimedia Commons 

Kein Gedenkstätten-Profi hätte sich die Dramaturgie besser zurechtlegen können: In diesem Jahr lässt sich des ganzen 20. Jahrhunderts gedenken, angeordnet zu einer Erzählung, die für Deutschland sehr vorteilhaft ist. Die Erzählung geht zugespitzt so: Zuerst, im Juli/August, schlitterten wir in den Ersten Weltkrieg, da wussten wir noch nicht, wie schrecklich es werden würde. Dann, im September, brachen wir den Zweiten Weltkrieg vom Zaun, das war böse. Aber schließlich – denn Reichspogromnacht, Auschwitz, Kriegsende, Teilung Deutschlands und Mauerbau können wir uns dieses Jahr sparen, ebenso wie die NS-Machtübernahme – kommt im November der Mauerfall, das friedliche Freudenfest, das das „kurze Jahrhundert“ abschließt und uns alle, die wir ja auch hart an uns gearbeitet haben, geläutert in die wohl verdiente Freiheit entlässt.

Der 9. November 1989 war der glücklichste Tag in der deutschen Geschichte. Wer hätte sich nicht freuen sollen, mal abgesehen von ein paar Handvoll verbrecherischer Tschekisten? Bis weit in loyale SED-Kreise hinein wurde der Mauerfall nicht nur, aber auch als eine Befreiung empfunden. Klammheimlich war wahrscheinlich sogar das halbe Ministerium für Staatssicherheit ein bisschen erleichtert. Und auch die Welt, auch die europäischen Nachbarn konnten an diesem großen, unverhofften Glück teilhaben: Die fröhlichen Deutschen, die auf der Mauer am Brandenburger Tor tanzten und „Wahnsinn“ schrieen und Grenzpolizisten abknutschten, schlossen niemanden aus, sie hätten sogar Honecker die Hand gereicht. Der europäische Geschichtskonsens, auf den Deutschland angewiesen ist, integrierte diesen Tag mit Freuden.

Aber schon hier setzen Gegenerzählungen an: War die Maueröffnung nicht auch ein Coup, die letzte Rache des Politbüros, um die Demokratisierung im Land aufzuhalten und von sich selbst abzulenken?

Die Regie des Gedenkjahres 2014 wird dadurch begünstigt, dass der 9. November auf einen Sonntag fällt. Das lässt vergessen, dass er eigentlich ein ganz normaler Arbeitstag ist. Als Feiertag zugewiesen wurde uns hingegen der 3. Oktober gut vier Wochen vorher, der „Tag der Deutschen Einheit“. Wir sind gespannt, welche Regie er zu seinem 25. Jubiläum nächstes Jahr 2015 erfahren wird. Bisher bleibt er in seiner Mobilisierungsfähigkeit noch hinter den kirchlichen Feiertagen zurück, nationale Jubelfeiern haben sich jenseits der Maskeraden der Fußball-WM seit 1990 nicht eingebürgert.

Dass im Einigungsvertrag nicht der 9. November, sondern der 3. Oktober zum Feiertag erkoren wurde, wird mit der historischen Ambivalenz des „Schicksalstages“ erklärt, der neben die Erinnerung an deutsches Freiheitsglück 1989 die Erinnerung an deutsche Verbrechen 1938 und 1923 und die Erinnerung an zerstörte deutsche Hoffnungen auf den Sozialismus 1919 stellt. Vor dieser Ambivalenz haben die Deutschen 1990 gekniffen. Die Wahl des 3. Oktober klammerte Unerfreuliches aus, so wie man einem Kind an seinem Geburtstag schlechte Nachrichten erspart. Und sie gab der Einheit vor der Freiheit den Vorzug. Diese Priorisierung von Einheit vor Freiheit hatte wiederum paradoxerweise keine einigende, sondern eine spaltende Wirkung – und wahrscheinlich auch Absicht: Der 3. Oktober ermöglichte, all diejenigen Deutschen (wie Nicht-Deutschen) vom Feiern symbolisch auszuschließen, die sich über den Mauerfall vielleicht noch gefreut, die Wiedervereinigung aber definitiv nicht gewünscht hatten und das Ende der DDR bedauerten: Das waren neben den klammheimlich Erleichterten im MfS, den SED-Mitgliedern und so manchen am 9. November noch geknutschten Grenzsoldaten auch diejenigen DDR-Oppositionellen und bundesdeutschen Linken, die auf den Fortbestand einer „sozialistischen Alternative“ auf deutschem Boden gehofft hatten, das waren Maggie Thatcher und 39 Prozent unserer polnischen Nachbarn, und das waren auch die Westdeutschen, die sich der Verantwortungsgemeinschaft mit den ostdeutschen Brüdern und Schwestern nicht zugehörig fühlten. Sie alle hätten mit dem 9. November noch erreicht werden können – stattdessen wurden sie unter den 3. Oktober gezwungen, um ihnen für alle Zeiten reinzureiben, dass sie 1990 historisch falsch lagen.

Die Freiheitserzählung, die der 9. November 1989 eigentlich erlaubt, ist seit 1990 auf vielfältige Weise korrumpiert. Der symbolische Ausschluss der Wiedervereinigungs-Gegner aus dem Gedenken hieß auch, dass die von ihnen geforderten politischen Optionen nicht diskutiert werden mussten. Als Preis für die Priorisierung von Einheit vor Freiheit zahlten die Deutschen, dass sie sich überhaupt nicht richtig freuen und überhaupt nicht richtig trauern durften und auch das Gedenken an das Mauer-Regime, von dem sie sich selbst befreit hatten, über viele Jahre an den Rand gedrückt wurde.

Bis 2004 war die Erinnerung an die Mauer in Berlin der Privatinitiative von Einzelnen überlassen, ein buntes Spektrum von Hinterbliebenen, ehemaligen Fluchthelfern und Flüchtlingen, einem früheren MfS-Offizier, Pfarrern und Anrainern, die hier und da Kreuze und Gedenksteine aufstellten, ein Mauerstückchen oder einen Wachturm pflegten und Zeugnisse archivierten. Erst, als die Ehefrau und Witwe des Gründers des Mauermuseums am Checkpoint Charlie, das zwischenzeitlich in eine gut verdienende GmbH verwandelt worden war, auf einem gegenüberliegenden Baugrundstück eine geschichtswissenschaftlich wie geschichtspolitisch anstößige Mauerattrappe vor einem Wald von riesigen Holzkreuzen aufbaute, griff die öffentliche Hand ein. Seit zehn Jahren gibt es nun ein „integriertes Gesamtkonzept“ des Senats und des Bundes, das das Mauer-Gedenken als historische, erinnerungspolitische und touristische Aufgabe insbesondere der „Stiftung Berliner Mauer“ an der Bernauer Straße immer weiter professionalisiert und ausbaut.

In den europäischen Geschichtskonsens einfügen ließ sich dieses Gedenken vor allem durch eine Festlegung: Es sollte in erster Linie um die „Opfer“ der Mauer gehen, schrieb das Gesamtkonzept vor. Das war wunderbar kompatibel mit dem herrschenden Viktimisierungsdiskurs, der Opfer-Orientierung, die aus allem Unrecht und Leid vom Ersten Weltkrieg angefangen bis heute eine große europäische Opfer-Sauce macht, mit dem leidenden Individuum als kleinstem gemeinsamen Nenner. Das hatte eine befriedende Wirkung, und es erfüllte zudem durch den Fokus auf persönliche Lebensgeschichten die Bedürfnisse des Publikums nach Authentizität. Vor allem aber bestätigte es durch seinen entpolitisierten Individualismus genau die verengte Vorstellung von Freiheit, die 1990 verhindert hatte, dass der 9. November Feiertag wurde: Denn die „Opfer“ wurden individuell gemeuchelt und wollten mit der Flucht ja nur ihr individuelles Glück und ihre individuelle Freiheit. Dass sie mit ihren DDR-Erfahrungen auch in der Bundesrepublik eine verändernde und kritische Kraft hätten sein können, fiel aus dem Blick.

Während der Gedenkzirkus zum Ersten Weltkrieg noch anhält, die Veranstaltungen zum Beginn des Zweiten Weltkriegs bevorstehen und das große Finale des Mauerfalls am Herbst-Horizont sichtbar wird, wäre jetzt nach den Erinnerungen und Erzählungen zu fragen, die den europäischen Konsens befruchten könnten, gerade weil sie in der Bundesrepublik unbequem sind. Ihr früheren Gegner der Wiedervereinigung – erzählt doch mal!

 

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