Ich. Heute. 10 vor 8.

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Frauen schreiben. Politisch, poetisch, polemisch. Montag, Mittwoch, Freitag.

Ich passe, also bin ich

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Die Intellektualisierung des Fußballs ist inzwischen in der Philosophie angekommen. Über das zweifelhafte Bedürfnis, das Denken im Fuß zu verorten.

Seit ein paar Jahren schon ist es ein beliebter Sport unter einigen Autoren und Journalisten, gesellschaftliche Entwicklungen und politisches Weltgeschehen in Fußballanalogien zu erklären. Zum Beispiel indem ‘liberale Spielweisen‘ gegen ‘republikanische‘ und ‘monarchische‘ aufgestellt werden: je nachdem, wie die Aufstellung der Spieler und die Aufgabenverteilung in der Mannschaft aussieht. Oder indem die Aufgabenverteilung in einem Fußballverein mit der im Staat verglichen wird, wonach der Trainer der Verfassungsgeber, der Manager der Parlamentspräsident und der Vereinspräsident das Staatsoberhaupt sei. Heute kursiert die Auffassung, Deutschland sei mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft zur Top-Nation der ganzen Welt geworden.

© Foto: privat. Ball: (CC BY 2.0) via flickr shine2010Wer braucht einen Kopf, wenn es auch Bälle gibt?

Die Verlockung, das verloren gegangene große Ganze über den Fußball neu zu konstituieren, hat auch auf die Philosophie übergegriffen. In einem Gespräch im Deutschlandfunk unternahm der Anthropologe, analytische Philosoph und „Sport“-Philosoph Gunter Gebauer vor kurzem den Versuch, den Fußball in die Philosophiegeschichte einzuordnen. Gebauer erklärt dafür die Geschichte des Denkens so: Die Hand sei durch den aufrechten Gang freigestellt worden und dadurch sei es möglich geworden, Zeichen zu entwickeln und die Sprache wesentlich zu fördern. Erinnern wir uns: In der Philosophie vor Gebauer erschloss sich die Welt noch über die Sprache.

Im Fußball fände die Kodifizierung der Körperteile ganz anders statt als normalerweise im Leben und erst recht ganz anders als in der Philosophie. Die Hand sei verboten, das Denken verlagere sich in die Füße. Der Fußball sei deshalb eine neue Etappe der philosophischen Anthropologie, weil hier der Mensch vom Kopf auf die Füße gestellt würde, so deutet Gebauer den bekannten Satz von Karl Marx um. Der Kopf diene nicht mehr zum Denken, sondern zum Stoßen, zum Kopfball-Stoßen.

Gebauer will mit dieser sportessentialistischen Weiterentwickelung der Philosophiegeschichte ‘aus dem Körper heraus denken‘. Das überrascht nicht, denn Gebauer war aktiver Sportler und man weiß, dass die Erfahrungen eines Lebens Spuren im Denken hinterlassen. Dann darf man allerdings auch nicht vergessen, dass die Sportmedizin inzwischen genau weiß, dass gewaltsame Stöße gegen den Kopf wie beim Fußball oder auch beim Boxen zu Hirnverletzungen führen und – wenn der Sportler Pech hat –  zum frühen Einsetzen von Demenz und Alzheimer, Depression und Suizid.

22 athletische Leiber im postindustriellen Zeitalter

Wenn man aber den Gedanken ernst nimmt, dass Fußball inzwischen mehr ist als nur ein oft spannendes Spiel von 22 sehr hoch bezahlten Balltretern, sondern ein Spiegel für die Verfasstheit einer Gesellschaft, sind die Gründe dafür vielleicht andere als die, die bisher angeführten wurden. Die Mannschaften, die in der Weltmeisterschaft gegeneinander antreten, sind die einzigen Teams, in denen die nationale Zugehörigkeit noch eine entscheidende Rolle spielt, alle anderen großen Fußballvereine sind inzwischen längst international besetzt. Nur in der Nationalmannschaft kann die Idee der Nation noch beschworen werden. Überall sonst ist sie in einer tiefen Krise, löst sich auf oder befindet sich in einem Prozess der Umwandlung angesichts der internationalen Migrationsströme.

Aber wenn auch Professoren, die jedem Nationalstolz gegenüber eher skeptisch sind, mit einem Fanschal aus Kunststoff mitfiebernd vor dem Fernseher sitzen, dann muss es in diesem Spektakel noch etwas anderes geben. Es ist der Kampf der athletischen Leiber, für die es im postindustriellen Zeitalter keine Verwendung mehr gibt. Dabei spielt es inzwischen nur noch eine untergeordnete Rolle, ob es sich um männliche oder weibliche Leiber handelt.

Wenn man den Fußball als Erklärmodell für unsere Welt benutzt, dann muss man aber auch über die Ränder des Spielfeldes sehen. Der gewaltig von der Bewusstseinsindustrie befeuerte Hype fängt für einen Moment die Angst vor der Zukunft auf, die unter dem Mehltau unseres späten Biedermeiers rumort. Wir haben Angst vor den Migrationsströmen, die über das Mittelmeer kommen. Wir sehen in vielen Weltteilen Krieg und die radikalen sozialen Ungleichheiten mit dem Kreislauf von Hunger, Armut und Schulden – und eine Besserung ist angesichts des herannahenden Klimawandels nicht in Sicht. Und in diese angstbesetzten Regionen sind unsere Körper auch unwiederbringlich verflochten.

„Wo früher koloniale Landnahme war, ist jetzt körperliche Landnahme.“

Die Anthropologin Nancy Scheper-Hughes hat gezeigt, wie die Menschen am unteren Ende der Welthierarchie uns ihre Körper zur Verfügung stellen: indem sie Teile davon an die Transplantationsmedizin verkaufen oder uns als Leihmütter zur Verfügung stehen. Man sieht, wie die Körperlandschaften der Individuen Kontinente, Rassen, Klassen, Nationen und Religionen verschmelzen. Thailänderinnen gebären australische Kinder. Muslimische Nieren reinigen christliches Blut. Weiße Rassisten atmen mit der Hilfe schwarzer Lungen. Der blonde Manager blickt mit dem Auge eines afrikanischen Straßenkindes auf die Welt. Ein katholischer Bischof überlebt dank der Leber, die aus einer Prostituierten in einer brasilianischen Favela geschnitten wurde. Die Körper der Reichen verwandeln sich zu kunstvoll zusammengesetzten Patchwork-Arbeiten, die der Armen zu einäugigen beziehungsweise einnierigen Ersatzteillagern. Ulrich Beck hat dazu den bemerkenswerten Satz gesagt: „Wo früher koloniale Landnahme war, ist jetzt körperliche Landnahme.“

Im Spiel um die Sieger auf dem Rasen, kann man das alles vergessen. Aber jedes Denken, sei es als ‘Denken aus dem Körper heraus‘ oder unter Zuhilfenahme von politischen Philosophen, das die Welt durch Fußball erklären will und diese Verstrickungen nicht berücksichtigt, ist gefangen im blinden Elitismus einer weißen, rückwärtsgewandten Gesellschaft, die etwas konservieren will, was brüchig in sich selbst ist. Man sollte das Spiel Spiel sein lassen, für das man sich begeistern kann oder auch nicht. Und der Satz „Wir sind alle Weltmeister“ hat den gleichen Wahrheitsgehalt wie das Versprechen einer Kaffeerösterei, dass ein Kaffee, den Millionen Menschen kaufen, mein persönlicher Privatkaffee sei.


3 Lesermeinungen

  1. f0a0 sagt:

    Jaja, der Herr Gebauer hat wohl etwas zuviele Kopfbälle hinter sich oder spielen die auf
    dem Rasen jetzt blind? Oder sieht man neuerdings mit nicht mehr von den Füßen entfernten Hühneraugen – durch das Schuhmaterial hindurch?

  2. Jeeves3 sagt:

    kommt mir bekannt wor
    “Intellektualisierung des Fußballs” …?
    War das nicht schon mal (und seitdem) vor einem halben Jahrhundert bei “Intellektuellen” das Thema?
    “Die Angst des Torwarts…” zum Beispiel, oder Henscheids diverse Artikel und sein Wissen um Mannschafts-Aufstellungen seit anno dunnemals bis heute…

  3. jan68 sagt:

    Die korrupte FIFA haette in Brasilien etwas beweisen koennen:
    Einen Prozentsatz der Einnahmen zur Rettung des Urwaldes.
    Aber wahrscheinlich muss man erst brasilianischer Profifussballer sein, um auf aehnliches zu kommen.
    Der Interessierte suche bitte schoen selber diese Nachrichten ueber jenes Nationalteam, dass vor der Hexa-Copa auf einen Gutteil des Salaers fuer Beduerftige (unter anderem medizinische Operationen) spendete; diese Aktion fand irgendwo im Staate Bahia statt.

    Unsere Fuesse sind Kunstwerke Gottes.
    Sie sammeln jahrelange Erfahrungen: barfusslaufen ueber heissen, nassen, matschigen, koernigen, sandigen Grund; oder in Turnschuhen und Stiefeln.
    Der Fuss ist das erste und wichtigste Bindeglied des menschlichen Koerpers mit der Erde.

    Laufen Sie barfuessig. Sind die Spazierwege in ihrem Park geteert?

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