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Serbisches Disneyland auf blutigem Boden

| 19 Lesermeinungen

In Bosnien wurde kürzlich eine künstliche Stadt errichtet - am Ort eines der größten Massaker der jugoslawischen Zerfallskriege. Bauherr ist Emir Kusturica, der durch den Film Arizona Dream mit Johnny Depp in der Hauptrolle international berühmt wurde.

© privatDie Brücke von Višegrad

„Von allem, was der Mensch baut und aufbaut, gibt es nichts Besseres und Wertvolleres als Brücken.“ Ivo Andrić erhielt 1961 den Nobelpreis für Literatur. Sein Roman Eine Brücke über die Drina spielt in Višegrad, einer kleinen bosnischen Stadt nahe der serbischen Grenze. Andrić lässt darin ein ganzes Ensemble an Gestalten zu Wort kommen, wobei die eigentliche Heldin immer die steinerne Brücke bleibt, im 16. Jahrhundert von den Osmanen erbaut, im Ersten Weltkrieg zerstört, später rekonstruiert und 2007 zum UNESCO-Welterbe erklärt. Es ist eine Brücke mit einer langen Geschichte, eine Brücke, die Orient und Okzident verbindet – 250 Schritte lang, zehn Schritte breit, in der Mitte weitet sie sich.

Auf dieser Drinabrücke fand während der jugoslawischen Zerfallskriege eines der grausamsten Massaker der jüngsten Geschichte statt. Hunderte muslimische Zivilisten wurden hier hingerichtet und in den Fluss geworfen. Insgesamt fielen in Višegrad 3.000 Muslime ethnischen Säuberungen zum Opfer, durchgeführt von serbischen Paramilitärs, Polizisten und Einheimischen.

Ivo Andrić, der große Humanist, der zeitlebens an der Utopie Jugoslawiens festhielt und an die Vereinigung aller jugoslawischen Völker glaubte, wurde nach dem Krieg zur identitätsstiftenden Figur. Sowohl die Serben als auch die Kroaten erhoben Anspruch auf ihn und wollten sich mit seinem Namen schmücken. Andere warfen ihm vor, gegen den Islam ideologisiert zu haben und suchten in seinen Romanen Belege für rassistisches Denken. Nun hat ihm der serbische Staat ein fragwürdiges Denkmal errichtet. In Form einer ganzen Stadt: Andrićgrad.

Dort, wo jahrelang Kriegsverbrechen begangen wurden, steht nun ein balkanisches Disneyland – eigens dazu da, nationalistische Wahnvorstellungen zu propagieren. Der Komplex erstreckt sich über 14.000 Quadratmeter und umfasst fünfzig Gebäude, die, einer Zeitreise gleich, ein wildes Nebeneinander von byzantinischer, osmanischer, neoklassizistischer und habsburgischer Architektur ergeben. Es fehlt weder an einem Renaissance-Platz noch an einem Stadttor. Es gibt Geschäfte, Cafés, Restaurants, ein Theater, ein Multikino, Konferenzräume, ein Studentenwohnheim, ein Hotel, eine Kunstakademie und eine orthodoxe Kirche. Eine Moschee oder eine katholische Kirche gibt es selbstverständlich nicht.

Andrićs Ministadt gleicht einem Jahrmarkt. Man kann hier Souvenirs erwerben. Babuschkas, Tassen, Eierbecher, Kühlschrankmagneten, Sitzkissen, alles mit dem Antlitz des Nobelpreisträgers. Ein solches Kissen kann man etwa dazu verwenden, es sich vor dem Višegrader Hotel „Vilina Vlas“ bequem zu machen. Man drückt sein Gesäß auf Andrićs Gesicht, lässt den Blick schweifen und gibt sich Erinnerungen hin – zum Beispiel an die organisierten Massenvergewaltigungen, die in ebendiesem Hotel stattfanden.

Was würde Andrić wohl sagen, wenn er all das sehen könnte? Dieses bizarre Monstrum von einer Stadt, am Rande des gescheiterten Großreichs Serbien, an dessen Idee die führenden Politiker des Landes sowie die serbisch-orthodoxe Kirche immer noch auf eine aberwitzige Weise festhalten.

Es gibt in Andrićs Roman eine Figur, den grausamen Abidaga, der für die osmanischen Herrscher die Bauarbeiten an der Brücke leitet, ein korrupter Leuteschinder, der die Bewohner der Gegend zur Fronarbeit nötigt; unentwegt fürchtet er dabei den Tag, an dem sich bis zum fernen Großwesir durchgesprochen haben wird, dass er dessen Plan, eine Brücke zum Nutzen aller Menschen zu bauen, dazu benutzt, sich selbst zu bereichern.

Der Abidaga Andrićgrads ist niemand Geringerer als der gefeierte Regisseur Emir Kusturica. Er ist Bauherr und Leiter des Projekts. Im ehemaligen Jugoslawien ist Kusturicas nationalistisches Engagement bekannt – als ehemaliger Freund und Verehrer von Slobodan Milošević gibt er sich nun voll und ganz seiner Liebe zu Putin hin. In Europa oder den USA dagegen steht sein Name vor allem für Filme wie Arizona Dream, eine Satire auf den amerikanischen Traum mit Johnny Depp; oder für Melodramen wie Zeit der Zigeuner (1986) und Schwarze Katze, weißer Kater (1998).

Emir Kusturica, Sohn muslimischer Eltern, konvertierte 2007 zum orthodoxen Glauben. Er weiß sehr genau, welche Verbrechen auf dem Boden verübt wurden, auf dem seine groteske kleine Stadt steht. Er weiß sogar die Namen derer, die verantwortlich sind. Niemals hat er sich von diesen Männern distanziert.

Kusturica will mit Andrićgrad einen Ort der kulturellen Begegnung schaffen. Kürzlich organisierte er dort ein „internationales“ Festival für junge Filmemacher. Gezeigt wurden Dokumentarfilme aus Russland, Serbien, Weißrussland und der Ukraine. Die Preise wurden u.a. in den Kategorien Familie, Russische Sprache, Volk, Heimat, Großherzigkeit und Putin vergeben.

Im Rahmen des Festivals äußerte Kusturica sich auch zu den Ereignissen in der Ukraine. Seiner Ansicht nach finde dort eine Fortsetzung des „jugoslawischen Szenerios“ statt. Er sprach von einer jahrelangen Propaganda-Aktion gegen Milošević, davon, dass eigentlich die USA verantwortlich seien für den Zerfall Jugoslawiens und davon, dass nun mit Putin ein weiterer Unschuldiger an den Pranger gestellt werde.

Emir Kusturica könnte eine von Ivo Andrićs Figuren sein. Andrić würde ihn freilich der Lächerlichkeit preisgeben: „Es gibt einen bestimmten Typus Mensch, der in unserem Land oft anzutreffen ist, der meint, Streit sei eine Handlung, Grobheit das gleiche wie Energie, und dass eine Beleidigung eine Kunst ist, dass jede Zurückhaltung des gesprochenen Wortes eine Schwäche und jeder Versuch der Voraussicht Zeitverschwendung ist; kurzum dass der sogenannte Kampf des Lebens aus einem endlosen Wechsel zwischen Gebell und Knurren besteht.“


19 Lesermeinungen

  1. speedy376 sagt:

    und schon wieder.....
    Es wäre bei der journalistischen Recherche nicht allzuviel verlangt, geographische Aspekte besser nachzuforschen! Visegrad liegt nicht in Serbien, sondern in der heutigen Republik Bosnien-Herzegowina. Wie lange stochert man in der schrecklichen Vergangenheit noch herum und schreibt weiterhin negative Artikel über die Ex-YU Länder? Die Menschen auf dem Balkan kämpfen um das tägliche Überleben. Ganz gleich welcher Nation sie angehören. Sie sind es leid, immer auf den Bürgerkrieg hinzuweisen. Sie haben im Moment wahrlich ganz andere Sorgen. Wann wird in der deutschen Presse etwas erfreuliches geschrieben? Es scheint, als ob die deutsche Presse die Vergangenheit nicht loslassen kann als die serbische, bosnische etc. Man soll nicht vergessen, das was im ehemaligen Jugoslawien passiert ist aber man sollte seinen Blick in die Zukunft richten!!!!!!

    • linamuzur sagt:

      Gleich im ersten Absatz meines Textes schreibe ich: “… eine kleine bosnische Stadt nahe der serbischen Grenze.” Visegrad liegt natürlich in Bosnien und ist Teil der Republika Srbska.

    • Ermin sagt:

      Disneyland - besser zu vergesen
      Was soll das Herr Stojkovic!?
      Sollten wir, zum Besipil wir hier in Tschechien, in Teresienstadt, wo Nazisten Tausende unschuldige Leuten umbegracht haben, vorsetellen Sie sich es, auch ein Casino, Ein Kino mit lustige Filme, etwa wie Putin Mig fährt oder reit am Delfine, sollten wir auch da tanzen und singen, und am Zentralen platz des Städtchen eine Gebäude bauen die erinert uns auf Nazisten. Und nicht nur da in Teresienstadt so was machen, überall es machen, überall in ganzen Welt. Wo war ehemaliger lager – muss man ein Disneyland bauen! Wollten Sie es sagen? So Verganngenheit besser zu vergessen? Zzz, Herr Stojkovic!

  2. BorisMetlar sagt:

    Mir stellt sich die Frage...
    …ob Frau Muzer auch so offen und ehrlich mit dem in Bosnien gefeierten Dino Merlin ins Gericht gehen würde? Da gäbe es auch einiges das man in so einem Artikel aufarbeiten könnte…

    • annikareich sagt:

      Lieber Herr Metlar, Frau Muzur hat hier auf diesem Blog auch einen Text über Dino Merlin geschrieben. Wenn es Sie interessiert: https://blogs.faz.net/10vor8/2014/04/07/sie-hat-doch-schon-eine-heimat-1163/ Viele Grüße Annika Reich

    • BorisMetlar sagt:

      Titel eingeben
      In dem Artikel wird allerdings in keinster Weise auf Dino Merlins Vergangenheit eingegangen. Stattdessen wird eine Geschichte über eine Frau erzählt die im Balkankrieg so viel erleiden musste und jetzt Sehnsucht nach ihrem Land hat. Natürlich wird auch der obligatorische Seitenhieb gegen Serben nicht ausgelassen.

      Genau wegen solchen einseitigen Betrachtungen und Berichterstattungen, von Leuten die es eigenticht besser wissen müssen, wird es in meiner Heimat nie Ruhe geben.

  3. sumadinac sagt:

    In Serbien wurde kürzlich eine künstliche Stadt errichtet ???
    Wusste nicht das Visegrad in Serbien liegt. Nicht doch in Bosnien Herzegowina (Srpska Republika) ???

  4. MisterMischa sagt:

    Vielleicht bauen Parubij und Poroschenko..
    ..in ein paar Jahren etwas Ähnliches in Odessa oder Slawiansk. Mit EU-Geldern.

  5. Dubiumsapientiaeinitium sagt:

    Natürlich sind nur die Serben schuldig
    Sehr geehrte Damen und Herren!
    In Bosnien haben die Serben sicherlich grausame Massaker verübt, aber ich will einen britischen Leser über das Massaker von Vizegrad zitirien:”Gruesome stuff no doubt. And I am sure there is some denial. But as usual you completely ignore Serbian victims, which were exactly the same proportionally as the Muslims and Croats. There is no objectivity, and never has been, so it is hard not to empathise with the Serbs’ wish to forget about it. You have never treated them fairly. Why don’t you do your job and go to Kosovo and see how the Serbs have fared there after the glorious war of “liberation”.
    Ich will besonders die Bücher von General a.D. Heinz Loquai über die Wahrheit des Kosovo-Kriegs erinnern.

  6. Orakel007 sagt:

    Die furchtbaren Blutspuren der serbischen Aggressoren
    Man sollte Angriffskriege der Serben / Ex-Jugoslawen auf andere anerkannte Gebiete nicht lapidar als “Bürgerkrieg” bezeichnen. Es ist gut, dass sich heute alle Nachbarländer von den Serben abgesondert haben – und die Serben sollten sich heute nicht als “Opfer” aufspielen. Um die Gegenwart und Zukunft zu bewältigen, sollte man auch die Vergangenheit begreifen und nicht vernebeln. Ob ein Disneyland auf blutigem Boden als Vergangenheitsbewältigung dient, das sei dahin gestellt…

    • Trilluminati sagt:

      Wenn man keine Ahnung hat....
      einfach mal die….!!!
      Waren Sie schonmal in Bosnien oder Serbien? Als “Opfer” spielen sich ganz andere auf…

  7. sevicjovan sagt:

    Vor einigen Tagen war Bernard-Henri Lévi ...
    in Odessa um den Text seines neuen Theaterstückes vor zu lesen. Von dem nazistischen Massaker im dortigen Gewerkschaftshaus, am 02.Mai 2014, war bei dieser Gelegenheit nicht die Rede. Stattdessen veröffentlichte Levi einen Text über den ukrainischen Präsidenten Poroschenko, den man, bei etwas gutem Willen, auch als Parodie auf ähnliche Texte aus der Stalin Ära hätte interpretieren können. Offenbar war der Text aber ernst gemeint. Im Gegensatz zu Levi ist Emir Kusturica ein Künstler und Regisseur mit internationalem Renommee und seiner politischen Analyse des Ukraine Konflikts ist wenig hinzuzufügen.

  8. enes.fazlic sagt:

    Emir Opfer seines eigenen Undergrounds
    Schade, dass durch einen falschen Titel die eigentliche Botschaft unter geht und in Frage gestellt wird.

    Richtig ist, dass die künstliche Stadt Andricgrad bei Visegrad die Nationen spaltet und eine falsches Bild vermittelt. Sie verfälscht eine über Jahrhunderte orientalisch und muslimisch geprägte Geschichte Bosniens.
    Erstaunlich sind Parallelen zu Kusturicas Film „UNDERGROUND“ nach dem fabelhaften Szenario von Boris Kovacevic (Serbien). Es scheint so, als wäre Emir selbst Opfer seines eigenen Undergrounds in dem er sich immer weiter vergräbt … Verzeihen kann man ihm nicht. Dafür ist er zu intelligent….

  9. Boehnlein sagt:

    "In Serbien wurde kürzlich eine künstliche Stadt errichtet "
    Langsam aber sicher wird mir ganz schlecht! Ist das noch ‘meine’ FAZ??? VISEGRAD ist eine Stadt in Suedostbosnien, die Ueberschrift schlicht falsch und irrefuehrend, nicht jeder Leser in NJEMACKA kennt die Geographie des Balkans so detailliert um dies zu erkennen.
    Greueltaten grausamer Art gab es hier zuhauf leider und sicher auf allen Seiten. Man sollte ja darf jedoch nicht die Agressoren vergessen, welche mit dem Ziel der Ausloeschung aller NICHTSERBISCHORTHODOXEN begann und zielstrebig durchgefuehrt wurde. Es war nicht nur POTOCARI-SREBRENICA! Seit nen Jahren lebe und arbeite ich in BiH, Oeffnungen von Massengraebern gehoeren zu meinen ungeliebten Erfahrungen leider dazu.
    Im uebrigen gebe ich meinem Vorschreiber Recht, die liebenswerten Menschen hier haben gerade nach der Jahrhundertflut ganz andere Sorgen, die politische Klasse ist noch erbaermlicher (pardon lieber Einheimische) als die in SVABOland, pozdrav iz SARAJEVA Martin Böhnlein

  10. JHWDH sagt:

    Interressant...
    wäre eine geistige Reflexion über die nachhaltige, einsichtige Wirkung von
    Mahn-oder Denkmählern jeglicher Art weltweit und die Anzahl in Bezug dazu.
    Das Gegenwartgeschehen ist eine klare objektive Antwort für mich.
    Ändert subjektive “Einzelfalldiskussion” die objektive Gesamt-Realität?
    Keine nachhaltige, dem “Mal”bedeutungsaufwand” entsprechende, human wünschenswerte “Nachhall-Wirkung” der “Mäler” weltweit…sehe ich.

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