
Pinar Selek wurde 1971 in eine Familie linksgerichteter Istanbuler Intellektueller hineingeboren. Ihr Vater ist ein namhafter Rechtsanwalt, ihr Großvater gründete gemeinsam mit dem legendären Dichter Yasar Kemal die linke türkische Arbeiterpartei. In dieser Familie gehörte es zum guten Ton, oppositionell zu denken und zu handeln und einige Jahre im Gefängnis gesessen zu haben. Pinar besuchte das französische Gymnasium und studierte danach in Istanbul Soziologie. Die Wahl des Studienfachs ist Indiz für ihr früh erwachtes Interesse an den gesellschaftlichen Prozessen in ihrem Land. Besonders konzentrierte sie sich dabei auf verschiedene ausgegrenzte Minderheiten. Schon als Studentin schloss sie sich der feministischen Bewegung in der Türkei an. Aber sie setzte sich auch für Trans- und Homosexuelle – zwei in der türkischen Öffentlichkeit weithin geächtete Gruppen – und Prostituierte und nicht zuletzt für Straßenkinder ein. Mitten in Istanbul betrieb sie einen Laden, in dem diese Kinder und Erwachsenen Rat und Zuflucht fanden. Daneben führte sie im Rahmen ihres Studiums Interviews mit gewaltbereiten Mitgliedern der Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Ihr familiärer Hintergrund und ihr Engagement für die Rechte benachteiligter Gruppen, dazu das Interesse an den Motiven der PKK-Kämpfer – was Wunder, dass die türkische Justiz sich für Pinar und ihre vielfältigen Aktivitäten interessierte.
In den achtziger und neunziger Jahren überzog die PKK, die für die Loslösung von der Türkei und einen separaten Kurdenstaat kämpfte, das Land mit blutigen Terroranschlägen. Als es im Juli 1998 im Istanbuler Gewürzbasar zu einer Explosion kam, bei der über 100 Menschen starben und viele verletzt wurden, brachten Polizei und Justiz eine Gruppe von PKK-Mitgliedern mit dem Ereignis in Verbindung. Unabhängig davon und Tage vorher war Pinar Selek festgenommen worden, angeblich, weil in ihrem Kinderladen Dinge gefunden wurden, mit denen man Sprengstoff herstellen kann. Erst im Gefängnis erfuhr Pinar aus dem Fernsehen, dass sie im Zusammenhang mit der Explosion in der bekannten Markthalle angeklagt war. Ein deswegen verhafteter PKK-Mann hatte sie als Komplizin benannt. Sie wurde verhört und grausam gefoltert, gab die Namen ihrer kurdischen Interviewpartner aber nicht preis. Unbedingte Vertraulichkeit ist oberster Grundsatz des Berufsethos eines jeden Soziologen. Daran hält sich die Soziologin Pinar Selek. In den Augen der alten Justizkaste in Ankara machte sie das zur Staatsfeindin.
Dennoch kam sie nach zweieinhalb Jahren Untersuchungshaft aus dem Gefängnis. Nachdem der Belastungszeuge seine Aussage als unter Folter gemacht zurückzog und einräumte, Pinar nie begegnet zu sein, wurde sie 2006 in einem ersten Prozess vor dem Hohen Istanbuler Kriminalgericht freigesprochen. Dass die Ursache der Explosion bis heute nicht zweifelsfrei geklärt ist und zahlreiche unabhängige Gutachter der Ansicht sind, dass der vermeintliche Bombenanschlag in Wahrheit ein durch eine defekte Gasflasche ausgelöster Unfall war, hinderte das Oberste Kassationsgericht in Ankara jedoch nicht daran, den Freispruch zu kassieren. Pinar Selek war zum Spielball in einem absurden Machtkampf widerstreitender Kräfte innerhalb der türkischen Justiz geworden. Sie durchlebt bis heute einen wahrhaft kafkaesken Prozess.
Der Freispruch wurde im März 2009 zwar in Teilen bestätigt, aber eben nur in Teilen. Pinar Selek musste jederzeit mit erneuter Verhaftung rechnen. 2009 verließ sie die Türkei und ging nach Deutschland, wo sie zunächst einige Monate Stipendiatin der Heinrich Böll Stiftung war und im November desselben Jahres in das Writers-in-Exile-Programm des PEN-Zentrums Deutschland aufgenommen wurde. Hier lernte ich sie kennen. Eine schöne junge Frau, die Stärke und innere Ruhe ausstrahlt, gerne laut lacht, unendlich viel arbeitet und dennoch immer Zeit findet, sich mit Freunden zu treffen, sie mit selbst zubereiteten türkischen Speisen zu bewirten und ihnen im Krankheitsfall ein Säckchen selbst gesammelter und getrockneter Kräuter mitzugeben.
Nachdem auch der Freispruch von 2009 vom Obersten Kassationsgericht nicht anerkannt worden war, bewies der Vorsitzende der 12. Kammer des Hohen Istanbuler Kriminalgerichts, die sie schon 2006 und 2009 freigesprochen hatte, ein drittes Mal Mut: Im Februar 2011 wurde Pinar Selek abermals freigesprochen. Auch dieses Urteil ging zurück nach Ankara. An eine Rückkehr in die Heimat war weiterhin nicht zu denken.
In ihrer Berliner Zeit absolvierte Pinar nicht nur unzählige öffentliche Auftritte, sondern arbeitete auch an ihrer Dissertation, vollendete ihr Sachbuch Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt (Orlanda Verlag, Berlin 2010) und schrieb ihren Debütroman über zwei junge Paare zur Zeit des Militärputschs von 1980 in ihrer Heimatstadt Istanbul, der 2011 unter dem Titel Halbierte Hoffnungen ebenfalls bei Orlanda erschien.
Ende 2011 schied Pinar Selek aus dem Writers-in-Exile-Programm des PEN aus und ging nach Straßburg, um an der dortigen Universität weiter an ihrer Dissertation zu arbeiten. Während sie forschte, Vorträge hielt – teils wissenschaftlicher Natur, teils in eigener Sache – und unermüdlich sowohl als Menschenrechtsaktivistin als auch als Streiterin für ihre eigenen Rechte tätig war, wies das Oberste Kassationsgericht auch den dritten Freispruch zurück und ordnete eine Neubewertung des gesamten Verfahrens an. Die entsprechende Verhandlung wurde so kurzfristig einberufen, dass den beisitzenden Richtern kaum Zeit blieb, sich mit dem umfangreichen Aktenmaterial vertraut zu machen. Dass der Vorsitzende Richter ihr krankheitshalber fernbleiben musste, war anscheinend nicht unwillkommen. Im März 2012 wurde beschlossen, den Prozess neu aufzurollen und Pinar Selek zu lebenslänglicher Haft zu verurteilen. Ohne neue Zeugen, ohne neue Beweise. Das Urteil dürfte da längst festgestanden haben und fiel denn auch im Januar 2013 entsprechend aus: Lebenslänglich unter erschwerten Bedingungen, also mindestens 32 Jahre Isolationshaft.
Seit neuestem hat es den Anschein, als seien die Kräfteverhältnisse im Innern der türkischen Justiz in Bewegung geraten. Im Juni dieses Jahres lehnte das Oberste Kassationsgericht in Ankara dieses Urteil ab und verwies den Fall zur Neuaufnahme an das Hohe Istanbuler Kriminalgerichts zurück. Dort wird am 3. Oktober neu verhandelt.
Über 16 Jahre zieht sich Fall Pinar Selek inzwischen hin. Dass sie daran nicht zerbrochen ist, hat sicher in erster Linie mit ihrer Persönlichkeit zu tun und auch mit dem starken Rückhalt in der Familie – der Vater ist ihr Hauptverteidiger, die Schwester gab ihr Medizinstudium auf und studierte Jura, um ihm dabei zu helfen -, aber auch mit der anhaltenden Solidarität, die ihre Geschichte in vielen europäischen Ländern hervorgerufen hat, allen voran in Deutschland und Frankreich. Über sechstausend Menschen aus aller Welt, darunter viele namhafte Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler und Personen des öffentlichen Lebens, unterzeichneten eine Protesterklärung des PEN-Zentrums Deutschland. Unterstützung kam von der deutschen Bundesregierung und von Abgeordneten der Grünen, der Linken und der SPD. In Frankreich und Deutschland gibt es Unterstützerkomitees und auch der Menschenrechtsausschuss des Europäischen Parlaments befasste sich mit dem Verfahren.
16 Jahre Verfolgung für eine Straftat, die nach der vorhandenen Beweislage kein Verbrechen war, sondern ein Unfall. Warum wird Pinar Selek so erbittert verfolgt? Und warum scheint nun im Obersten Kassationsgericht ein Sinneswandel eingetreten zu sein? Pinar kann diese Fragen nicht beantworten, sieht sich als Opfer eines internen Machtkampfes, in dem die momentane Entwicklung nur ein weiteres Kapitel ist. Auf die türkische Politik setzt sie keine Hoffnungen. Meine Frage, ob die Wahl Recep Tayyip Erdoğans zum Staatspräsidenten der Türkei Einfluss auf den Fortgang ihres Prozesses haben werde, verneint sie rundheraus.
Seit 16 Jahren kämpft Pinar Selek nicht nur gegen absurde Anschuldigungen und gegen einen in sich zerrissenen Justizapparat, schreibt Artikel, führt Prozesse vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, redet auf Kundgebungen, gibt Interviews und tritt mit scheinbar unversiegbarer Energie für die Anerkennung ihrer Unschuld ein. Und bei all dem lebt und liebt sie und genießt ihre wenige Freizeit. Sie hasst das Exil, aber sie hat sich damit arrangiert, weil es vorerst nicht anders geht. Im französischen Exil hat sie sich in diesem Jahr promoviert, lehrt jetzt an der Universität Lyon, die ihr die Ehrendoktorwürde verlieh, und arbeitet zur Zeit an einem neuen Roman.
Die Türkei. Das war doch das Land, das viele vor einigen Jahren, wenige heute noch,
lieber heute als morgen in die Europäische Union aufgenommen hätten, nicht wahr? Das Land mit einer allen rechtsstaatlichen Masstäben hohnsprechende Justiz, nichtexistentem Menschenrechtsschutz, schleichender Islamisierung, mehr eingesperrten Journalisten als in Russland, einer langsam von autokratisch zu Diktatur wechselnden islamistischen Regierung, deren Mitglieder alle und ausnahmslos korrupt sind.
Es sollte deshalb viel mehr solcher Berichte geben. Dann gäbe es weniger Illusionen über das demokratische Potential einer islamistischen Bewegung und deren Kompatibilität mit einem Rechtsstaat, mit Menschenrechten und Meinungsfreiheit. Wo korantreue Muslime aka Islamisten regieren, geht offenbar alles den Bach runter. Auch in der Türkei.