
Da steht einer wie ein Cowboy, die eingelaufenen Lederstiefel bis zum Knie, den Stetson-Filzhutin die Stirn gezogen. Um ihn herum die Stadt, staubig: Ulaanbaatar. Dichter Verkehr, Werbetafeln, Wohnblocks und Shopping-Malls. Dieser Look wird mir und meiner Reisegruppe, bestehend aus 24 internationalen Land Art-Künstlern, in der Mongolei noch oft begegnen. Was so ganz ohne Pferd nach Folklore aussieht, ist auf dem Land Arbeitskleidung und Alltag. Auf dem Land leben sie hyperlocal, traditionell nomadisch, in der Stadt spürt man einen neoliberalen Wind. Als es den Wilden Westen noch nicht gab, galoppierte Dschinghis Khan mit seinen Reitern schon durch die mongolische Steppe gen Westen. Auf den Köpfen ganz ähnliche Hüte.
Cowboy ist Western ist Verschiebung der frontier. Wohin wird diese heute verschoben, wo verläuft die new frontier?
Tim Cope ist ein Historien-Abenteurer, der an seine persönlichen Grenzen geht, um Geschichte erlebbar zu machen. Er steigt in den Aufzug in unserem Hotel zu und reicht seine Visitenkarte rüber. Ein Reiseführer aus Australien, der fließend mongolisch spricht und die Dokumentation “On the Trail of Genghis Khan” gedreht hat. Mit ihm selbst in der Hauptrolle. Auf dem Pferd ist Cope auf Dschinghis Khans Spuren von der alten mongolischen Hauptstadt Harhorin bis nach Ungarn geritten. Das hat drei Jahre gedauert und war anstrengend. Doch zu Dschinghis Khans Zeiten soll das Klima ungewöhnlich mild und feucht gewesen sein, haben Wissenschaftler kürzlich herausgefunden; sie haben es an den Jahresringen uralter Kiefern abgelesen.

An Harhorin fährt unser koreanischer Kleinbus vorbei auf dem Weg in das Orkhon Valley. Im Busradio läuft – kein Witz: “Dsching, Dsching, Dschinghis Khan”. Die mongolische Landschaft durch das Busfenster gesehen – Natur erscheint im Rückspiegel, als Bild vermittelt. Baumsterben gibt es in dieser perfekten Landschaft auch, die wie eine gemalte Ur-Landschaft aus einem Geographiebuch aussieht. Keine Spur von Industrialisierung. Die mongolische Weite evoziert Frontierfragen, ohne sie zu beantworten: Mond, Ur-Landschaft, New Market, Wilder Westen und Osten, Land der Möglichkeiten. Über den weltweiten Durst nach Rohstoffen und neuen Transporttrassen gerät die Mongolei immer mehr in den Sog der industriellen Kerngebiete Chinas, Russlands und Europas.

Und globale Wetterdaten werden heute auch nicht mehr an Bäumen abgelesen, sondern anhand von Technologien aus dem Kalten Krieg erhoben – Computer und Satelliten. Eine unserer Künstlerinnen hat ein Satellitentelefon dabei, auf das sie loads of dollars geladen hat, wie sie sagt. Die Leute vom Camp im Orkhon Valley verwenden ein mobiles Telefon mit großer Antenne. Beide Telefone funktionieren nur unter freiem Himmel.
Für alle Handybesitzer empfehlen die Locals einen Steinhaufen. Wir sollen uns auf den obersten Stein stellen, das Mobiltelefon nach oben strecken und auf Empfang warten, sagen sie. Doch nichts passiert, nur die Flugameisen schwirren um uns herum. Ein lustiger Versuch, sich selbst zu verorten. Wo ist man, wenn man sich in der Steppe aufhält? Für Google und Netzwerke nicht mehr zu erreichen.

In den neunziger Jahren glaubten Netzpioniere an die electronic frontier. Von unserer Jurte aus ist der Cyberspace nicht erreichbar. Also fahren wir vom Camp aus in den nächsten Ort, um einen Computer mit Internet zu finden und dann zu erfahren, dass der Schuldirektor mit dem Schlüssel zum Computerraum in die Ferien gefahren ist. Statt ins Netz gehen wir einkaufen. In einem Laden gibt es die Reiterstiefel, die alle Nomaden tragen. Sie stehen in einem großen Pappkarton in der Ecke. Vor der Eingangstür blau-weiß gestrichene Holzbalken, an denen die mongolischen Cowboys ihre Pferde anbinden können.
Während der Tage im Orkhon Valley hat der mitreisende Kunstkritiker geopolitische Infrastrukturpläne neuen Ausmaßes sondiert, mit dem Laptop vor der Jurte sitzend. Die new frontier im fernen Osten ist neue Infrastruktur auf alten Routen. China plant für das Großprojekt „Neue Seidenstraße“, mit dem alte Karawanenstraßen als Handelsstrecken wiederbelebt werden sollen, Schienen für Güterzüge von Beijing über Kasachstan und Indien nach Istanbul zu verlegen. Containertransporte über Ulaanbaatar und Novosibirsk rollen schon bis ins fast deindustrialisierte Duisburg – vom Hochofen zum Logistikhub. Kein Weg scheint zu weit für die Chinesen, um ihre wirtschaftliche Macht zu demonstrieren.
Und die alten Mächte blicken währenddessen nostalgisch auf den Weltraum. Der Film „Gravity“ schien auf eine alte new frontier, das Weltall als militärisches Territorium, zurückzublicken. In Hollywoodschwärmen sie von Vergangenem in Bildern: Mondlandung, Blue Marble, ISS. John F. Kennedy fasste damals sein Regierungsprogramm unter dem Stichwort New Frontier zusammen, die Raumfahrt sollte die Amerikaner auf Augenhöhe mit den Sternen bringen. Das All war die new frontier des 20. Jahrhunderts und Dschügderdemidiin Gürragtschaa der einzige mongolische Kosmonaut in den Weiten des Weltraums.
Wieder im Camp, spätabends. Wir sitzen im Kreis um einen Laptop, aus dem Musik schallt. Die Nacht ist kühl. Für Schamanen ist der Himmel mythisch aufgeladen. Man sollte sich diesen Himmel wieder zurückerobern. Luftverschmutzung, Straßenlaternen und der Lichtschein kosmischer Überwachungstechnologien blenden zu viel aus. Der Sternenhimmel wird von der Kapitalismuskritik unterschätzt. Dabei ließen sich bestimmt viele mit diesem Ausblick davon überzeugen, dass geringerer Stromverbrauch seine guten Momente hat. In der Steppe leuchten die Sterne noch wie verrückt.