
Ziemlich beste Freunde war ein Riesenerfolg, in jederlei Hinsicht – als Film, als Buch, als mediales Ereignis. Eine Geschichte von zwei Menschen an der Peripherie, die die Gesellschaft mitten ins Herz traf. Den Platz am äußersten Rand hatten hier stellvertretend für viele zwei Männer eingenommen: der eine arm und durch seine Herkunft gesellschaftlich unterprivilegiert, der andere gezeichnet von einer schweren körperlichen Behinderung. Es ging um Isolation und deren Überwindung durch Solidarität. Als Buch hat sich die Story von Abdel Sellou und Philippe Pozzo di Borgo mehrere hunderttausendmal verkauft: auf Papier gedruckt, aber auch als E-Book – digital sogar überdurchschnittlich oft.
Der digitale Wandel wird hierzulande oft mit Verlust gleichgesetzt. Die Kultur des gedruckten Wortes geht verloren, heißt es, das Bleibende, die ernsthafte Literatur, fällt der digitalen Beschleunigung zum Opfer, alles wird kurzlebig, alles geht kaputt. Aber für manche Menschen tun sich gerade Welten auf. Ganz ausgeblendet wird bei den Klageliedern, dass es eine ungeheure Zahl potentieller Leser gibt, die bislang nur bedingt analog verlegte Werke rezipieren konnten. Oder gar nicht. Dank neuer Technologien haben wir es nun aber mit barrierefreien Neuerungen zu tun, die – ausschließlich auf digitalen Entwicklungen basierend – Millionen von Menschen mit Einschränkungen oder Behinderungen an einer großen Vielfalt literarischer Texte teilhaben lassen. Das erfordert natürlich Investitionen, und es geht dabei eben nicht einfach um E-Books. Eine soziale Dimension digitaler Textvermittlung tut sich auf, die einen ganz neuen Blick auf die Zukunft verlegerischer Tätigkeit erfordert sowie auf die gesellschaftspolitische Verantwortung, die mit ihr einhergeht.
Jede wirklich kreative verlegerische Vision für die digitale Zukunft unsrer Bücher ist, zumindest zu diesem Zeitpunkt, mit dem EPUB-Format verknüpft. Es ist bestimmt kein Zufall, dass der Ursprung der 3.0-Version dieses Formats in dem international durchgesetzten Standard „Daisy“ (Digital Accessible Information System) zu finden ist, einem Standard, der zunächst für blinde User digital navigierbarer Hörbücher entwickelt wurde. Und bestimmt ist es auch kein Zufall, dass der Präsident des IDPF (International Digital Publishing Forums), dem u. a. Apple, Google, Adobe sowie eine Vielzahl großer Verlage und Institutionen angehören, selbst blind ist. George Kerscher hat den Begriff „print disabled“ für alle jene Menschen geprägt, die – durch physische oder sensorische Einschränkungen – gedruckte Texte nicht nutzen können: Es sind viele. Sie profitieren von Text-to-Speech-Funktionen, von Erfindungen wie Refreshable Braille, von Voice Control, Augensteuerung, überhaupt von erstmals vernünftig navigierbaren Texten.
Und darin liegt auch die politische Dimension, die sich aus all diesen technischen Möglichkeiten ergibt. Es wäre an der Zeit, Standards festzulegen, um die barrierefreie Nutzbarkeit von Computern zu garantieren, Standards wie EPUB-Formate sind das eine, die entsprechende Funktionalität der Hardware ein weiteres. In Hinsicht auf “Accessibility” nimmt Apple übrigens eine Vorreiterrolle ein, und erst kürzlich hat CEO Tim Cook darauf hingewiesen, dass man auf diesem Gebiet kontinuierlich weiterarbeiten wird, selbst wenn dadurch keine kurzfristigen Umsatzzugewinne eingefahren werden (wie von einigen Großaktionären gefordert). Das Betriebssystem iOS8, die neue auf dem iPhone 6 installierte Software, bringt folglich gleich eine ganze Reihe von beeindruckenden Optimierungen, was die barrierefreie Handhabung der Geräte anbelangt.
Es sollte nicht überraschen, dass in diesem Jahr in Klagenfurt einer der eindrucksvollsten Texte von einem Mann vorgetragen wurde, der unter einer starken Sehbehinderung leidet: Michael Fehr. Sein kreatives Schaffen ist engstens verwoben mit dem Einsatz digitaler Technologien. Wie er liest, wie er schreibt, wie er seine Texte auf die Bühne und zu Gehör bringt, all das ist ohne inspirierte technische Bastelei nicht denkbar. In diesem Fall die eines Tontechnikers an der Berner Hochschule der Künste, der ein eigens auf Fehr abgestimmtes Textverarbeitungsprogramm entwickelt hat. „Ich bin jemand, der zu Anfang ganz starke innere Bilder hat, und die bestehen wesentlich aus Farben, Farbkombinationen …“ In einem Interview spricht der fast blinde Autor über das allmähliche Auftauchen jener Impressionen, die dann in seine Prosatexte und Gedichte münden. Und man spürt sogleich, dass es hier eine Wahrnehmungsverschiebung gibt, eine Andersartigkeit des Zugriffs auf die Welt, die sich dann in Fehrs Werk abbildet – einem Werk, das vor kurzem gar nicht erst hätte entstehen können. Es geht um Teilhabe, auch am kreativen Prozess.
Lesen tut Philippe Pozzo di Borgo übrigens noch immer am liebsten ohne Bildschirm. Auch wenn er die Wahl eines schönen Papiers taktil nicht mehr genießen kann, die geschmeidige, leicht strukturierte Oberfläche einer Buchseite, so schätzt er doch die Gradierungen der Farbe, den harmonischen Stand des Satzes, die gutgewählte Typographie, das ästhetische Zusammenspiel von Umschlag, Einband, Lesebändchen. Wie wir alle. Wir lieben ihn, diesen schönen, uns seit Jahrhunderten verlässlich begleitenden Kulturträger, das Buch. Zum Umblättern benutzt Pozzo di Borgo ein bewährtes analoges Hilfsmittel, einen kleinen Stock. Er hält ihn im Mund. Manches lässt sich eben mit etwas Improvisation auch ohne Technik lösen. Aber wie gut zu wissen, dass man sich mittlerweile per Zuruf durch einen Text bewegen kann. Oder auch nur durch einen einzigen Lidschlag. Oder durch Augenbewegung Kunst erschaffen kann. Die digitale Revolution macht’s möglich. Und unsere Welt wird reicher.