Ich. Heute. 10 vor 8.

Ich bin fünfzig und habe genug

© privatDamals – 1991

Jetzt ist es passiert, ich bin raus. Raus aus der werberelevanten Zielgruppe, auch raus aus der Gruppe der gebärfähigen Frauen. Raus aus der Gruppe derjenigen, die im Fitnessstudio alle Kurse belegen dürfen. Noch vor zwanzig Jahren hätte ich mich jetzt schon „Seniorin“ nennen dürfen, das klänge heutzutage freilich ein bisschen übertrieben. Aber wie man es dreht und wendet, jung bin ich nicht mehr. Ich bin Fünfzig.

Ich könnte jetzt sagen: Ist doch nix passiert, was sagt schon das Alter, alles nur Zahlen. Aber das stimmt nicht. Es hat sich in diesen Jahren etwas an mir verändert, allerdings nicht das, wovon üblicherweise zu lesen ist in Punkto Midlife. Und das ist ja viel in diesem Jahr. Wir 1964-er waren der geburtenstärkste Jahrgang ever in der Bundesrepublik Deutschland. Jemand hat mir erzählt, dass in diesem Jahr sogar die Locations knapp wurden, weil so viele feiern wollten. Ich selbst habe auch schon fünf fünfzigste Geburtstage gefeiert, plus meinem eigenen (zuhause, daher kein Location-Problem).

Was also hat sich verändert? Wie unterscheidet sich mein heutiges Lebensgefühl von dem mit vierzig, dreißig, zwanzig? Wenn ich es auf einen Begriff bringen müsste, würde ich sagen, das Motto meines Fünfzigsten lautet: „Genug“. Heute habe ich „genug“, früher nicht. Und zwar nicht nur einfach genug von diesem oder jenem, Geld, Freundinnen, Klamotten, Urlaubserinnerungen, sondern generell genug. Genug vom Leben.

Keine Sorge, ich habe nicht vor, mich vor den Zug zu werfen. Es ist doch erstaunlich, was für eine verdrehte Bedeutung das Wort „Genug“ angenommen hat, wenn sich diese Assoziation der Lebensmüdigkeit überhaupt aufdrängt. Wer von einer Sache „genug“ hat, so denken wir, hat die Sache über, will davon nichts mehr wissen, will sie loswerden.

Aber „genug“ bedeutet doch nicht „zu viel“, sondern: „das rechte Maß“. Genug ist weder zu viel, noch zu wenig, sondern eben genau richtig. „Genug“ ist Sattsein, nicht Übersättigung. Ist Zufriedenheit, Ruhe, Gelassenheit. Das „Genug“ meines Fünfzigseins bedeutet so viel wie: So, wie es ist, kann es bleiben, ich brauche nicht mehr mehr.

Vielleicht tun sich mit dem Älterwerden deshalb viele Menschen schwer, weil dieses Sattsein in unserer Kultur einen schlechten Ruf hat. Wenn ich zum Beispiel katastrophige Bücher lese wie das von Bascha Mika, die das Fünfzigsein für eine „Mutprobe“ hält, vor allem für Frauen, dann kommt es mir vor, als lebte ich in einer anderen Galaxie. Ich weiß zum Beispiel nicht, was schlimm daran sein soll, wenn Männer nicht mehr in erster Linie nach „Sexyness“ fahnden, wenn sie mir begegnen. Mir gefällt das gut.

Die Alten, so heißt es außerdem, hingen nur noch „satt“ am Schreibtisch herum, während die Jungen noch „hungrig“ seien und man also mit ihnen noch etwas anfangen kann (in Bezug auf den eigenen Profit, versteht sich). An dem Sachverhalt, so würde ich als eine sagen, die gerade von der einen in die andere Kategorie überwechselt, ist durchaus etwas dran. Nur die Bewertung ist falsch. Sattsein ist ja etwas Schönes.

Dass wir Fünfzigjährigen aus der werberelevanten Zielgruppe der 14-bis 49-Jährigen rausfallen, hat so gesehen seine Richtigkeit. Neuerdings wird manchmal in Zweifel gezogen, ob diese Einteilung noch sinnvoll ist, denn schließlich haben die „Silver Ager“ statistisch gesehen heute mehr Geld in der Tasche als diese Altersgruppe jemals hatte. Es wäre da also was zu holen. Aber was auch stimmt: Wir lassen uns nicht mehr so leicht dazu verführen, etwas zu kaufen, nur weil die Werbung es uns nahelegt. Wir sind satt, wir haben genug. Das heißt auch: Wir haben eine gewisse Erfahrung darin, was wir brauchen und was nicht, wir haben uns Gewohnheiten zugelegt. Wir wissen, welche Marke Strümpfe und Nudeln und Waschpulver wir kaufen, und es muss schon etwas ziemlich Gravierendes passieren, um uns aus dieser Routine zu reißen.

Die Lebenshaltung eines „Das brauche ich nicht mehr, ich habe genug“ ist dabei durchaus eine zwiespältige Angelegenheit. Mit fünfzig kann man sich noch nicht zurücklehnen und sich zum Beispiel einbilden, neue Entwicklungen oder Technologien gingen eine nichts mehr an. Das wäre gefährlich. Wir Fünfzigjährigen müssen ja damit rechnen, noch dreißig, vierzig Jahre zu leben, das ist lang.

Aber das Gefühl des „Genug“ genießen, das darf man durchaus. Es hilft übrigens auch dabei, von manchem Abschied zu nehmen, wenn es denn sein muss, und ich will nicht verschweigen, dass das vorkommt. Es sind oft Kleinigkeiten, aber sie können schmerzhaft sein. Im Frühjahr zum Beispiel verknackste ich mir den Knöchel. Meine Knöchel waren immer ein wenig instabil, ich bin oft umgeknickt, aber es wurde immer wieder heil. Diesmal nicht, jedenfalls nicht hundertprozentig. Ich kann zwar noch gut laufen, sogar rennen, aber wahrscheinlich kann ich nie mehr Squash spielen. Nie mehr in meinem Leben. Natürlich könnte ich jetzt heulen, aber vielleicht habe ich ja auch genug Squash gespielt. Wenn ich es so sehe, fühlt es sich nicht ganz so dramatisch an.

Eine beliebte Sache bei fünfzigsten Geburtstagen sind ja Diashows von alten Fotos, auch für meine Party habe ich so eine zusammengestellt. Mit ein bisschen Ehrfurcht haben sie mich daran erinnert, was ich schon alles gemacht habe, wo ich schon überall war. Mein Gefühl dabei war: Es war toll, dass ich allein mit dem Motorrad bis nach Kalabrien gefahren bin, aber heute wäre mir das zu anstrengend. Es war toll, dass ich früher alle zwei Monate total verliebt war, aber heute wäre mir das zu doof. Es war lustig, mit wildfremden Leuten in überfüllten Schlafsälen und Hostels zu übernachten, aber heute bevorzuge ich Einzelzimmer. Been there, done that. Klar, wenn ich so denke, komme ich mir alt vor, aber es hilft ja nichts: Ich bin doch alt im Vergleich zu damals.

Dieses Gefühl des Genug kann man ignorieren und verdrängen, oder man kann es kultivieren, und ich plädiere für Letzteres. Wir sollten es nicht mehr für eine Schwäche halten, sondern für eine Stärke. Nein, ich habe keine Midlife-Crisis, und ich bezweifle auch, dass ich sie noch bekomme. Fünfzig zu sein fühlt sich tatsächlich gut an, entspannend, sobald ich mir erlaube, das Genug zu genießen: Ich habe keine großartigen Ambitionen mehr. Ich muss nicht mehr reich werden oder berühmt oder Karriere machen, ich muss nicht mehr darüber nachdenken, ob ich Kinder will oder nicht, ob ich den falschen Mann geheiratet habe oder ob ich statt in Frankfurt nicht lieber in Hamburg leben möchte. Weil diese Züge allesamt abgefahren sind. Die wesentlichen Entscheidungen meines Lebens sind gefallen. Natürlich könnte ich das eine oder andere doch noch ändern. Aber, und das ist der Unterschied zu früher: Ich muss nichts mehr ändern. Wenn alles so bliebe, wie es jetzt ist, dann wäre das völlig okay. Ich bin eben, wie und was ich bin, und Punkt.

Mit diesem Gefühl, so stelle ich mir vor, geht es jetzt, jenseits der Fünfzig – nein, nicht bergab, sondern geradeaus. Ich bin geworden, was ich bin, und jetzt trage ich die Verantwortung dafür. Befreit von Ambitionen und von der Notwendigkeit, anderen etwas zu beweisen oder noch irgendetwas Tolles zu werden, tue ich einfach, was ich gut kann und was ich für sinnvoll halte. Ich nutze meine erworbenen Fähigkeiten, Kenntnisse, Einflussmöglichkeiten, um die Welt so mitzugestalten, wie ich es richtig finde.

Fünfzig zu sein und genug zu haben – also nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig – bedeutet: aktiv sein. Aber eben aktiv nach den eigenen Maßstäben, nicht nach denen der anderen. Mit fünfzig, also „in den besten Jahren“, muss ich mich nicht mehr von anderen beurteilen lassen, sondern ich bin es, die jetzt beurteilt. Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten genug festen Grund unter mir angesammelt, dass ich die Anerkennung von anderen nicht mehr so nötig habe wie früher. Stattdessen nehme ich mein eigenes Urteil ernster: Was gefällt mir und was nicht? Wen unterstütze ich und wen nicht? Wem widme ich Aufmerksamkeit und wem nicht? Wer bekommt meine Anerkennung und wer nicht? Wofür engagiere ich mich und wofür nicht?

Im Lebensabschnitt des „Genug“ geht es nicht mehr bergauf, aber auch noch lange nicht bergab. Er bedeutet nicht Stillstand, es bedeutet Aktivismus ohne Leistungsdruck. Nicht Resignation, sondern Realismus. Eine ganz neue Art des Freiseins.

 

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