
An einem kühlen, windigen Abend Ende Juni kamen mehrere hundert Menschen einer abgelegenen Region im Nordosten Dänemarks, deren Bewohner für ihren bodenständigen Gleichmut bekannt sind, vor dem Rathaus von Holstebro zusammen. Ein paar Jugendliche kletterten auf Fahrradständer, um besser sehen zu können. Freuten sie sich auf die experimentelle Theater-Performance, die gleich beginnen sollte? Einer der Jungen grinste durch seine Zahnspange hindurch und nickte.
Endlich öffneten sich die Türen. Während der nächsten zwei Stunden strömten Familien durch das Gemeindehaus, das sich unter der Leitung eines der herausragenden zeitgenössischen Avantgarde-Regisseure in ein Labyrinth faszinierender, unwirklicher Installationen verwandelt hatte: ein Edith-Piaf-Konzert in einem Lagerraum; ein Klassenzimmer, das mit grüner Beleuchtung und jungen Ballerinen in rosa Tüll aussah wie ein zum Leben erwecktes Degas-Gemälde.
In der Bibliothek blieb ein Teenager stehen, um dem melancholischen Akkordeon-Spiel eines hiesigen Kriegsveteranen zu lauschen, der in Afghanistan verstümmelt worden war. Die kleine Tochter des Soldaten saß neben ihm und spielte auf dem Cello die gleichen Akkorde, immer wieder. Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich finde es wunderschön“, sagte er. „Ich bin beeindruckt.“
Da ist er nicht der einzige. In Holstebro mit seinen 34.000 Einwohnern sind die Kinder mit Avantgarde-Performances vertraut. Diese Verbundenheit geht auf ein ungewöhnliches gesellschaftliches Experiment zurück, das dieses Jahr seinen fünfzigsten Geburtstag feiert.
Wie andere ländliche Gemeinden in Dänemark litt Holstebro in den sechziger Jahren unter Bevölkerungsrückgang. Ein visionärer Bürgermeister beschloss damals, dass sich das Blatt mittels kultureller Investitionen wenden lassen könnte. Er richtete eine Musikschule ein und kaufte eine Giacometti-Statue, die zum Entsetzen der Bewohner auf dem Marktplatz aufgestellt wurde. Dann wollte er noch ein Theater. Als er hörte, dass die Avantgarde Theatergruppe eines italienischen Regisseurs gerade ihre Räume in Oslo verloren hatte, bot er ihnen eine leere Scheune an und genug Geld, um über die Runden zu kommen. Die Künstler kamen.

Heute ist das Odin Teatret weltbekannt. Als Dank an die Gemeinde, die es noch immer unterstützt, bespielen die Schauspieler regelmäßig die Straßen, Parks und Discounter von Holstebro mit ihren Projekten und Performances. Generationen von Kindern sind mit Kunstfiguren wie Mr. Peanut aufgewachsen, einem Skelett im Trauerkostüm, der auf Stelzen herumläuft und gelegentlich an Spielplätzen stehen bleibt, wo er wehmütige Melodien auf dem Kazoo spielt.
Genau so sollte es sein, sagt Lisbet Gormsen, die Kultur-Chefin der Region: „Ich finde, jedes Kind sollte die Möglichkeit haben, Künstler hautnah zu erleben. Künstler sehen die Gesellschaft aus einem anderen Blickwinkel. Sie geben uns etwas, das uns niemand nehmen kann, ein Leben lang.“
Regelmäßig veranstalten die Schauspieler des Odin und ihre internationalen Gäste Workshops, in denen Schulkinder beispielsweise traditionelle balinesische Tänze oder den Bau von Musikinstrumenten aus Müll lernen können. Es geht jedoch nicht darum, dass aus jedem Kind ein Künstler werden soll. „Überhaupt nicht“, sagt Gormsen. „Was sie erleben, hilft ihnen auch, sehr gute Lehrer werden. Oder Zahnärzte, die sich für Musik interessieren.“
Die jungen Leute, mit denen ich in Holstebro gesprochen habe, teilen ihre Meinung. „Kultur ist ein unterschätzter Teil des Lebens“, sagt ein 20jähriger Schwimmtrainer, der Medizin studieren will. „Als ich in die sechste Klasse ging, haben wir eine Aufführung des Odin-Theaters besucht. Ein Brasilianer kam an unsere Schule und unterrichtete uns im Tanzen. Ich habe ganz neue Möglichkeiten entdeckt, was ich mit meinem Körper tun kann.“
Die Lehrer merken, dass die Arbeit mit dem Theater den Schülern dabei hilft, sich zu entfalten. Die kleinen Ballerinen zum Beispiel, die sich nach ihrem surrealen Auftritt vor dem Rathaus versammeln, erinnern sich kichernd, wie sie im Odin auf den Tischen tanzen sollten. „Normalerweise“, sagt die 11jährige Eloise, „regen sich die Lehrer schon auf, wenn man den Fuß auf den Tisch legt.“
Die Tänzerin Pernille Overoe, zu deren frühesten Erinnerungen gehört, wie sie auf dem Schulhof experimentelles polnisches Theater „spielte“, erklärt, hier aufzuwachsen habe ihr Selbstvertrauen gegeben. „Holstebro ist kein schicker Ort“, sagt sie. „Aber wir können stolz auf die Kunst sein, die hier stattfindet.“
Einer der beachtlichsten Aspekte des Festival-Programms ist, wie ernst das Theater die Kinder als Künstler nimmt – und wie wundervoll ihre Performances sind. „Es geht darum, dass sie künstlerische Verantwortung für das übernehmen, was passiert“, sagt Julia Varley, Schauspielerin und Regisseurin am Odin Theater. „Hier gilt nicht: ‚Weil es nur Kinder sind, sind sie nicht gut.‘ Sie müssen zeigen, was sie können.“
Zu den Performances der Kinder gehören Hula-Hoop-Vorführungen, auf Bäume klettern, springen, der Bau von Flößen, Hotdogs grillen, gegrillte Hotdogs werfen und mit einem Feuerball Fußball spielen. „Kinder wollen sich zeigen, sie wollen zeigen, was sie am besten können“, sagt ein Schauspieler, zu dessen Rollen ein extrem realistischer Eisbär mit einer roten Rose gehört, der von den jungen Holstebroern heiß geliebt wird. Einmal sollte er während einer Performance verhaftet werden, doch das Drehbuch musste spontan geändert werden, weil die Zuschauer in Tränen ausbrachen.
In diesem Sommer, zum fünfzigsten Geburtstag des Odin Teatret, liegt der Fokus auf der Zukunft. Dafür wurden verschiedene Gruppen von Kinder-Künstlern eingeladen – Tänzer und Musiker ab sechs Jahren –, die aus Bali, Brasilien, Kenia, Puerto Rico, Indien und Italien nach Dänemark reisten. Der 15jährige Tänzer John Ndwati, der, bevor er sich einer traditionellen Theatergruppe anschloss, in Nairobi auf der Straße gelebt hatte, fand es toll. „Es war super“, sagt er, nachdem er im Stadtpark mit den dänischen Ballerinen auf einem mit gelber Seide bespannten Hügel aufgetreten war. „Die Mädchen waren toll. Manchmal kann man durchs Tanzen miteinander reden.“
Übersetzung: Sophie Zeitz
Ein visionärer Bürgermeister holte vor 50 Jahren...
Seitdem ist die dänische Kleinstadt ein Zentrum der Avantgarde…märchenhaft gut?
Ein visionärer Bürgermeister von Berlin holte vor ? Jahren den BER-Flughafen…alptraum…gut?
Visionäre Religionsführer holten vor…mehr als 50 Jahren…Seitdem sind Zentren der….?
auf der Erde…alptraum-märchenhaft-gut?
Dann gibt’s da noch zig Visionäre die bezüglich “Geldbeschaffung” so stark avantgard(e?)istisch
visionieren…daß “unterm Strich”, und nur das zählt, die Erde ein Müllhaufen ist und die Menschen
inhumane Kriegshaufen sind…Krieg nicht nur phys., …meine Wahrnehmung.
Meine Vision, …behalte ich für mich, sonst wird sie vielleicht nicht wahr.
Dieser Weg wird kein leichter sein…Xavier …Vision die nicht das übliche “Avantgarde-Geld” bedeutet.
:=)
P.S. Die aktuelle(n) Avantgarde-Papstvision, Merkelvision, Putinvision, Obamavision,
Islamvision (nicht Islamisten) würde(n) mich…falls Sie Beziehung haben?!
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Wie visionär und besonders die Kunst-Ideen waren und sind kann man nur wirklich ermessen, wenn man die Gegend kennt.
Wir besuchen sie jährlich wegen der Natur und Einsamkeit ( die jährlich zunimmt). Immer mehr Menschen ziehen aus dem “Armenhaus” Dänemarks weg und die Natur nützt Dir nichts, wenn Du keine Arbeit hast.
Das ist zwar in vielen anderen Regionen auch so, aber die Natur da oben ist nicht nur schön, sondern auch rauh.
In einer solchen Gegend ist jede Art von Kunst ein Licht im Dunkel.
Es erstaunt mich immer wieder mit welchem Mut und welcher Zähigkeit die Künstler dort ihre Kunst präsentieren und die Menschen sie auch annehmen.
Wer die Möglichkeit hat sollte dort im Urlaub unbedingt nach Ausstellungen und Veranstaltungen suchen, es ist immer ein Erlebnis.
Das mit dem Theater war mir neu und ich werde mich im nächsten Urlaub sicherlich in Holstebro über Veranstaltungen informieren.
Danke für den Artikel und ja, es IST märchenhaft gut, wenn man sich durch Widrigkeiten nicht davon abhalten läßt das “Ungewöhnliche” an einem “ungewöhnlichen” Ort zu wagen.