Ich. Heute. 10 vor 8.

Dit is nich Berlin, dit is Jewalt

© GröschnerImmer ist da einer, der nachts nach Karin, Yasmin oder Uschi ruft. Berliner Hinterhof

Es gibt ein Video im Internet, das im Juni aufgenommen wurde und immer noch geteilt wird, vor allem in seiner transkribierten Version als Gedicht. In dem Video ist ein Mann zu sehen, der in einem Berliner Hinterhof steht und schreit, dass er eine Frau wiederhaben will, „seine“ Frau, natürlich. Die Frau aber ist mit einem anderen Mann in der Wohnung. „Sie hat mir mein Herz rausjerissen, und jetzt fickt se da mit’n alten Mann rum“, ruft der Mann. Dann fängt er an, Steine ins Fenster zu schmeißen, dort, wo er den anderen und „seine“ Frau vermutet. Scheiben zerspringen. „Du Drecksau!“, brüllt er, und „Komm raus, du Wichser!“ Er wirft weitere Steine, noch mehr Scheiben klirren. Irgendwann geht er.

Das Video ist aufgenommen aus einem der oberen Stockwerke, vermutlich mit einem Smartphone, mit dem man auch die Polizei hätte rufen können. Derjenige, der das Video auf Facebook und YouTube gepostet hat, nennt sich Sebastian Berlin, als Uni gibt er auf seinem Profil das Berghain an. Das Smiley unter dem Posting sagt, er ist „belustigt“ über das Video, und belustigt sind auch die Menschen, die das Video kommentieren: „wie geil“, „lol“, „hahahaha“.

Das, was der Mann in dem Video brüllt, hat ein Blogger, Mathias Richel, aufgeschrieben und mit ein paar Absätzen versehen: „Berliner Liebe transkribiert“ nennt er sein Werk. Es gibt außerdem einen Remix auf YouTube, in dem die Tonspur des Videos mit Musik unterlegt ist.

Die Menschen, die das Video und den Text in ihren Netzwerken posten, schreiben dazu: „Großstadtpoesie!“, „Der letzte Berliner Romantiker“ und „Dit is Berlin!“ (Auch bild.de macht einen Artikel draus: „Die wahre Berliner Liebe.“)

Aber dit is nich Berlin. Dit is Jewalt.

Schön, wenn die Hölle die Anderen sind. Hier geht es um einen Mann, der nicht nur betrunken rumgepöbelt hat, sondern auch gewalttätig geworden ist. Und was tun die Nachbarn? Sie holen keine Hilfe, sie versuchen nicht, den Mann zu beruhigen. Der feine Herr aus dem dritten Stock wird sich nicht die Finger schmutzig machen und sich einmischen. Er guckt und filmt und postet. Ach guck, all die kaputten Menschen, wie trashig. Wir hier oben, die da unten. Weit, weit weg.

Gut, dass von James Hobrecht vermutlich inzwischen nichts mehr übrig ist, was sich im Grabe umdrehen könnte. Der Berliner Stadtplaner, nach dem der Hobrecht-Plan von 1862 benannt wurde, wollte ja genau das: Menschen verschiedener Milieus sollten eng beieinander in Mietskasernen wohnen und doch getrennt sein. Der „veredelnde Einfluss“, den Hobrecht sich vorstellte, da geht er hin: Die einen sind Bespaßung für die anderen.

Es sind Szenen wie dieses Video, die in sozialen Netzwerken gerne mit dem Hashtag #ditisberlin markiert werden, und die Faszination, die dahintersteckt, ist nichts Neues.

Berlin als hässlich und kaputt zu beschreiben ist eine Kulturtechnik für sich. Frank Wedekind schrieb 1908 in einem Brief: „Berlin ist ein Conglomerat von Kalamitäten.“ Berlin lebt von diesem Charme, und wer Berlin liebt, der liebt es auch dafür, wie fertig es sein kann. „Guten Morgen Berlin, du kannst so hässlich sein“, singt Peter Fox, „du bist nicht schön und das weißt du auch.“ Und von Anneliese Bödecker, einer Sozialarbeiterin, stammt das Zitat: „Die Berliner sind unfreundlich und rücksichtslos, ruppig und rechthaberisch, Berlin ist abstoßend, laut, dreckig und grau, Baustellen und verstopfte Straßen, wo man geht und steht – aber mir tun alle Menschen leid, die nicht hier leben können!“

Wer aber das Kaputte als Deko und Entertainment versteht, der ist nicht in Berlin, der ist im Zoo. Während Peter Fox Berlin hässlich findet, ist er selbst im Arsch: „Komm aus’m Club, war schön gewesen/ Stinke nach Suff, bin kaputt, ist ‘n schönes Leben.“ Und das ist etwas anderes, als Gewalt zu romantisieren und sich über Menschen lustig zu machen, denen es offensichtlich gerade ziemlich beschissen geht oder von denen Gefahr ausgeht.

Es macht einen Unterschied, ob man selbst Teil des Elends ist oder nicht – und ob man sich womöglich noch nicht einmal annähernd vorstellen kann, in eine Situation zu geraten wie die auf dem Hinterhof, weil es da eben um einen Typ von Menschen geht, in die man sich nicht hineinversetzen möchte. Empathie kann an Klassengrenzen sehr plötzlich aufhören.

Das Bedürfnis nach Distinktion und Anerkennung ist riesig, aber wer das Elend anderer dafür braucht, um zu zeigen, wie urban und witzig er ist, der ist vielleicht am Ende genau das Gegenteil von dem, was er sein wollte: ziemlich provinziell.

 

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