Ich. Heute. 10 vor 8.

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Frauen schreiben. Politisch, poetisch, polemisch. Montag, Mittwoch, Freitag.

Briefe aus Odessa. Olga

Im Radio laufen Instruktionen gegen Panik, und wir Ukrainer lernen beten.

© Daryja BenderSchach in Odessa, Sommer 2014.

Olga schreibt an Elke, 30. September 2014

Das Leben in Odessa verläuft im Moment in zwei Welten gleichzeitig. In der einen spielt sich der Alltag ab, gute Nachrichten, familiäre Zusammenkünfte, Reiseberichte, Gespräche über die Krankheiten der Kinder. In der anderen – beunruhigende Nachrichten aus der ATO (Anti-Terror-Operations-Zone), im Radio laufen Instruktionen gegen Panik: „Legen Sie die Hände auf den Bauch, atmen Sie dreimal tief ein. Wenn in der Nähe ein Mensch ist, dem Sie vertrauen, dann soll er sie ruhig umarmen.“
Manchmal scheint es, als existierten diese Realitäten parallel, und manchmal stoßen sie zusammen und überlagern sich hier und jetzt. Wie soll man das aushalten, ohne verrückt zu werden?
In Odessa ist der Altweibersommer in vollem Gange. Letztes Wochenende gab es ein Festival der Odessaer Küche, den ganzen Tag standen die Leute Schlange, sie dürsten nach Brot und Spielen. In diesem Jahr hatte Odessa Glück, was die Spiele betrifft, einige Festivals von der Krim sind jetzt in unserer Gegend gewandert. Im Kurort „Zatoka“ fand „Jazz-Koktebel“ statt, in der „Tschabanka – „Die Märchenstadt“. An den Stränden waren kaum Leute aus Russland, dafür mehr Kiewer, die sonst die Krim bevorzugen.
Es geht weiter: mit der Erholung und dem Freizeitprogramm für die Touristen. Wir kichern über die „Internetpartei“ und sind der Politiker überdrüssig, die sich ein weiteres Mal zur Wahl stellen. Wir leben scheinbar unser normales Leben. Als wäre es normal.
Gleichzeitig sehen wir in unseren Netzwerken  Fotos verbrannter Autos, Listen der Getöteten, permanente Spendenaufrufe für alles: von Socken über Thermowäsche fürs Militär bis zu Windeln und Graupen für die Flüchtlinge.
Odessa – das ist die Ukraine, aber auf dem Prospekt Schewtschenko fängt ein betrunkener Afghanistan-Veteran plötzlich an, eine Frau aus Charkow zu schlagen und ihren Begleiter, einen Kiewer, dafür, dass sie Ukrainisch miteinander sprechen. Im Krankenhaus wird die Verletzte so behandelt, als hätte sie alles nur erfunden. Den Schläger lässt die Miliz frei, obwohl die Sache im nationalen Fernsehen gezeigt wurde.
Die berühmte Potjemkin-Treppe ist mit einer gelb-blauen Fahne bedeckt, in der Innenstadt tragen Leute bestickte ukrainische Nationaltracht. Gleichzeitig schreit man einer Frau zu, die an ihrem Auto eine gelb-blaues Band befestigt hat: „Du sollst krepieren“.
Wir leben wie auf einem Pulverfass – mit den Befürwortern einer unabhängigen und geeinten Ukraine und den Separatisten, den Freunden des „Novorossia“. Es gibt die einen und die anderen in unserem Bekanntenkreis, unter unseren Freunden, innerhalb der Familie. Wir haben uns daran gewöhnt, möglichst nicht über Politik zu sprechen.
Die Odessiten haben sich daran gewöhnt, in einem Zustand der Unsicherheit zu leben, ohne die Gewissheit des nächsten Tages. Und gleichzeitig finden sich Kühne, die neue Restaurants oder Geschäfte eröffnen oder Business-Projekte beginnen.
Die Nachrichten sind widersprüchlich, manchmal nehmen wir uns gegenseitig das Versprechen ab, nicht mehr fernzusehen, aber sogar mit den netten Katzenfotos aus dem Internet haben wir oft Angst und sind in Sorge. Und dann suchen wir in uns Frieden, geben uns Mühe, freundlicher und behutsamer zu anderen Menschen zu sein, lernen wir, aufeinander aufzupassen. Wir lernen, gleichzeitig in verschiedenen Wirklichkeiten zu leben und neue Arten des Umgangs zu finden. Wir lernen, uns am Leben zu freuen, trotzdem. Wir lernen zu beten.

Olga, 29, Marketingexpertin

Übersetzung: Elke Bredereck