Ich. Heute. 10 vor 8.

Mein Kopf ist voll, mein Herz und mein Land sind es noch lange nicht

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Ich versuche in meinen Kopf rein zu hören, aber mein Kopf ist voll, ich kann keinen Gedanken richtig anhalten. Der eine springt gleich zum nächsten über. Wieso soll ich auf Facebook etwas liken, das ich viel lieber disliken möchte? Wieso sorgt die Diskussion um ein Hemd im Morgenmagazin für mehr Tweets und Retweets, als jede inhaltliche Kritik? Verkürzen wir Zusammenhänge, weil wir nur noch 140 Zeichen haben? Wie kann ich Berufliches und Privates trennen, wenn ich doch im Privaten auf den Beruf und im Beruf auf das Private angesprochen werde? Ist es wirklich schlecht für mein Gehirn, dass ich an jeder Ampel auf mein Smartphone schaue, und ihm somit kein Abschalten, keinen Leerlauf mehr ermögliche? Gerade hat es „Ping“ gemacht, eine neue Mail. Darf ich jetzt nachschauen? Oder soll ich mal verrückt sein, und es nicht tun? Ach Mist, mein Alarm, ich muss gleich meine Eltern anrufen, und die Blumen wollte ich auch noch gießen, der Hund muss raus, die Sonne scheint, wo ist meine Sonnenbrille, aber wollte ich nicht vorher eigentlich noch schnell den Kommentar zur Ukraine lesen. Immer dieses „eigentlich“.

Lese ich eigentlich zu viel? Ist das der Grund, warum ich kaum noch meine eigenen Gedanken höre, weil ich mich täglich mit anderen Meinungen und Einschätzungen zudröhne. Dröhne gleich Drohne. Macht Deutschland gerade alles richtig? Ebola, Irak, Russland, Nigeria, Assad. Befindet sich die Diplomatie in der Defensive? Wo ist Sandra Bullock und wünscht sich den Weltfrieden, wenn man sie braucht? Und wieso muss ich mir anschauen, wie 5000 Idioten in Köln machen, was sie wollen – und was die Mehrheit der Deutschen nicht will. Oder doch? Sagen sie etwa das, was viele denken, sich aber aus Gründen der Political Correctness nicht mehr trauen? Haben wir eigene Kulturkreise oder haben wir eine Gesellschaft, die unterschiedliche Kulturkreise trägt und erträgt? Muss ich verstehen, warum sich in Deutschland Leute darüber aufregen, dass wir Flüchtlinge aufnehmen? Und hier verharre ich nun, der Gedanke springt nicht weiter, und zum ersten Mal habe ich eine Antwort auf meine Frage. Alles im mir schreit „Nein“.

 

Meine Familie ist auch geflohen. Nach dem Sturz von Saddam war es für sie im Irak nicht mehr sicher. Lebensträume und Räume wurden weggebombt. Sie mussten alles hinter sich lassen, auch ihren Stolz und ihre Würde. Und ich fühlte mich hilflos, ich konnte nur mitansehen, wie meine Familie auseinander gerissen und die Erinnerungen an meine Kindheit begraben wurde. Fühle ich mich deshalb so betroffen? Nein. Ich bin betroffen und schäme mich, weil es dieses Mal vor den Augen der Welt geschieht; und ich mich wieder hilflos fühle. Das Kollektiv macht es nur schlimmer.

Christen die flüchten, Yesiden, die im Gebirge festsitzen, Kurden die kämpfen und Muslime, die sich verzweifelt dagegen wehren, dass sie nicht über einen Kamm mit dem sogenannten Islamischen Staat geschoren werden. Dabei haben sie weder einen Staat, geschweige denn haben sie etwas mit dem Islam zu tun. „Wieso? Der Muslim ist doch ein Islamist. Oder nicht?“ wurde ich letztens gefragt. Ja, Differenzierung ist etwas, was in unserer hektischen, schnelllebigen Zeit gerne mal hinten rüber fällt. Hey, aber was soll’s? Morgen ist die Schlagzeile vergessen, der nächste Skandal wartet schon. Und die Netz-Meute wartet schon darauf, ohne Filter und ohne Verstand, dafür aber mit ihren armseligen Namen, wie Billo72, BumBumKnall, ihre Meinung kund zu tun. Ja, wir brauchen Schubladen, um uns selbst in Sicherheit zu wiegen. Schwarz-Weiß-Denken. Klare Einteilung, klare Kante. Aber wieso muss ich überhaupt wissen, ob es nun ein Christ, ein Muslim, ein Syrer, ein Iraker oder ein sonst was ist? Sind die knapp 10 Millionen, die gerade auf der Flucht sind, nicht einfach nur Menschen? Und zwar Menschen, die ihr Land nicht verlassen wollten, sondern mussten! Menschen, die sich in ihrer Heimat ein Leben aufgebaut hatten, eine Zukunft, die Träume für ihre Kinder hatten, und die nun mit Nichts auf der Flucht sind. Menschen, die Dinge erlebt haben, bei denen wir selbst im Kino die Augen verschließen würden. Männer, die mit ansehen mussten, wie ihre Frauen und Kinder vergewaltigt wurden, Kinder, die mit ansehen mussten, wie ihre Väter hingerichtet wurden. Und wir? Ja wir sehen die Bilder im Fernsehen. Täglich. Aber wirklich vorstellen können und wollen wir es uns nicht. Wie soll ein Mensch das auch ertragen? Wir verschließen verständlicherweise unsere Augen, aber unsere Fähigkeit zur Empathie dürfen wir nicht verschließen. Ach ja, „das haben die sich doch selber eingebrockt, die mit ihrer Religion.“ Mein Gott, dann glauben sie wahrscheinlich auch noch an den Weihnachtsmann.

Und an all die, die keine Empathie in sich entdecken können, vielleicht finden sie ja ein bisschen Intelligenz? Vielleicht haben sie ja schon mal was vom Fachkräftemangel und vom demographischen Wandel gehört? Vielleicht sind die Menschen, die wir hier aufnehmen, eine Chance für unser Land? Vielleicht zieht ja dieses wirtschaftliche Argument? Ach nein, wie konnte ich vergessen, die Menschen, die zu uns kommen, sind ja Taugenichtse. Keine Akademiker, keine Fachkräfte. „Die liegen uns am Ende nur auf der Tasche. Außerdem haben wir schon genug aufgenommen“. Ach ja? Sagen sie das mal Ländern wie Jordanien, der Türkei oder dem Libanon. Allein hier: 4 Millionen Einwohner, 1 Million Flüchtlinge. Ja, es sind die Nachbarstaaten. Und? Ist das ein Grund, sie alleine zu lassen? Wir sehen ja jetzt, wo das hinführt. Wollen wir also wirklich mit Ansage in die nächste Katastrophe reinrutschen und hinterher so tun, als hätten wir es nicht geahnt bzw. nicht kommen sehen? Sollen Völker- und Menschenrecht weiter auf der Strecke bleiben?

Ja, die Welt wäre so einfach in schwarz und weiß, es wäre so schön leicht, sie in in gut und böse zu unterteilen. Wenn ich könnte, würde ich wie Tim Bendzko schnell mal die Welt retten. Das kann ich leider nicht, aber helfen kann ich. Da kann mein Kopf ruhig voll sein, mein Herz und mein Land sind es noch lange nicht.

Nachtrag vom 6.11.2014: einige Antworten auf die vielen Kommentare

die beide letzten Punkte überlasse ich gerne Ihnen!

ich (Dunja Hayali) und meinesgleichen (wer auch immer das sein soll)

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