Ich. Heute. 10 vor 8.

Das ist privat!

"Mireille, schau nicht so streng, sonst kommt der Rollkragenpulli weg."

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© Pressedienst der Ariola-Eurodisc GmbH, Wikimedia Commons„Mireille, schau nicht so streng, sonst kommt der Rollkragenpulli weg!“

Ich weiß jetzt, warum Mireille Mathieu keine Kinder hat. Ein glattrasiertes Journalistenbürschchen von Le Figaro TV hat es ihr entlockt, und dann fand es seinen Weg in eine deutsche Klatschzeitschrift im Wartezimmer meines Arztes: Mit ihren dreizehn Geschwistern hatte sie zu Hause ihre Mama schuften sehen – „c’était extrêmement dur“, deswegen wollte sie später keine eigenen Kinder. Das Bürschchen fragt weiter: ob sie dennoch ein Privatleben hatte? Mireille reißt die Augen auf und schiebt die Unterlippe vor: „Mais oui!“ Was im französischen Kontext als Andeutung funktioniert, muss die deutsche Klatschzeitschrift für uns ausbuchstabieren: Mireille Mathieu hat zwar keine Kinder, aber Sexualpartner – sie sagt uns bloß nicht wie viele, wann und wen. Die Aussage, dass sie ein Privatleben hat, offenbart das eine ebenso wie sie das andere verbirgt. Jetzt weiß ich’s und weiß es doch auch wieder nicht.

Wie über einen Abgrund balanciert diese kleine Frau auf dem hauchdünnen Grat des Privaten. Wen interessiert schon ihr Sexualleben, außer vielleicht diejenigen, die in sie verliebt sind? Doch was sie dann erzählt, lässt tief blicken: Die kommerziell erfolgreichste französischsprachige Sängerin der Welt wäre ohne ihren Manager und Impresario, Johnny Stark, ein „Nichts“ gewesen, ohne ihn hätte sie „nicht existiert“. Dass sie ein Privatleben hatte, soll die geschäftsschädigenden Gerüchte widerlegen, Johnny Stark habe sie gezwungen, für ihre Karriere zölibatär zu leben.

Der Trend, uns auf allen Kanälen mit „privaten“ Informationen zu überschütten, ist seit etwa vierzig Jahren ungebrochen. Richard Sennett war einer der ersten, der ihn beobachtete: Die „Tyrannei der Intimität“, die uns überall private Lebensgeschichten und Standpunkte aufnötigt, deutete Sennett als eine Verfallserscheinung des Öffentlichen und Politischen. Bis in die 1960er Jahre hinein sei das Handeln in der Öffentlichkeit an den Handlungen selbst gemessen worden. Seitdem müsse es sich zunehmend durch persönliche Bekenntnisse authentifizieren. Heute, könnte man meinen, sind diese Authentifizierungen zum Selbstzweck geworden.

Es gibt wahrscheinlich doch massenhaft Leute, die Mireille Mathieu – oder wen auch immer – gerne nackt sehen würden, ohne verliebt zu sein. Der Voyeurismus und Exhibitionismus, der Verlust des Schamgefühls, das „Spannen“ als Volkssport, will allerdings überhaupt nichts authentifizieren. Dass das Nackte ein Gesicht und eine Persönlichkeit hat, findet der Voyeur eher störend. Die Profiteure schieben sexuelle Liberalisierung vor. Tatsächlich hat die Schamlosigkeit nichts Emanzipatorisches, sondern erzeugt wieder eigene Formen des Missbrauchs und der Ausbeutung. Mireille ist Johnny Stark dankbar, weil er sie vor der Nacktheit bewahrt hat. Er hat sie zu dem gemacht, was sie ist; er hat ihr Kleidung und „Persönlichkeit“ gegeben. Dafür zahlt sie den Preis, sich nicht öffentlich zu einem Partner bekennen zu dürfen, sich ihre Kleidung nicht selbst auszusuchen. Sie trägt die Burka des westlichen Musikmarkts. Das Interview ist auch der Versuch, den Schleier ein wenig zu lupfen und die Möglichkeit eines wahren Gesichtes ahnen zu lassen.

Wie alt ist eigentlich das Bedürfnis, sich durch Bekenntnisse zu entprivatisieren? So alt wie die Sünde? So alt wie das Individuum? So alt wie die Angst vor der Stigmatisierung? Die ganze westliche Literatur wimmelt von Experimenten mit Autobiographie, mit Aufrichtigkeit, mit Authentizität, mit Selbstenthüllungen und Selbstbedeckungen.

Schon Montaigne hatte nicht die „Kraft“, seine Essais anders als „privat und häuslich“ zu begründen. Am liebsten hätte er sich „splitternackt“ gezeigt, wenn nur die ihn umgebende Gesellschaft dies zugelassen hätte. Eine Blütezeit für Entprivatisierungen und Intimisierungen war die Romantik. Hannah Arendt hat die wuchernden Indiskretionen und Konfessionen von Rousseau, Schlegel und Co. als ein Symptom ihrer politischen Isoliertheit und Unbewusstheit gedeutet. Sie wollten innerlich verstanden werden, weil sie ihre äußerliche Position, ihre politische und soziale Situation, selbst nicht verstanden. Rachel Varnhagen, die jüdische, assimilierte Salonière, hatte ebenfalls den sehnlichsten Wunsch, sich „den Menschen auf(zu)schließen“ und ihr Innerstes mitzuteilen. Sie schrieb Briefe und hoffte, dass ihre männlichen Freunde diese herumzeigen würden. Privilegiert und diskriminiert zugleich, waren die Missverständnisse, die ihr drohten, noch schlimmer als das Nichtverstandenwerden, mit dem sie lebte. Rachel Varnhagen hat nie veröffentlicht, blieb im Raum des Privaten gebannt und bezahlte mit psychischer Labilität.

Die Selbstoffenbarungen gehen mit Chancen und Risiken einher: Wenn sie misslingen, droht Stigmatisierung, wenn sie gehört und verstanden werden, winkt beträchtlicher symbolischer Gewinn. Ob sie schief gehen oder nicht, hängt von den ungeschriebenen Codes der Gruppe ab, an die sie sich richten. Die eine Peer-Group belohnt Profilierungen durch post-koitale Selfies, die andere Peer-Group steht eher auf Urlaubsbilder oder auf Postings von Windelinhalten. Aber je mehr der Trend zur Entprivatisierung fortschreitet, desto riskanter wird auch die Verweigerung von Bekenntnissen. Das Geheimnis des Privatlebens, das Mireille Mathieu so lange schützte, verflüchtigt sich. Johnny Stark hatte nicht bedacht, dass die von ihm geschneiderte Burka sie eines Tages als alte Jungfer nackt aussehen lassen könnte.

Wäre die Welt besser, wenn der Entprivatisierung ein Riegel vorgeschoben würde und die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen (von wem? und wo? und wie?) wieder klar gezogen würden? An die Unterscheidung öffentlich/privat knüpfen sich so viele andere Unterscheidungen: männlich/weiblich, oben/unten, beredt/stumm, mächtig/ohnmächtig, reich/arm, zugehörig/ausgeschlossen, historisch/unhistorisch und so weiter. Selbst den Zugang zu unserem Privaten zu kontrollieren, ist wichtigster Bestandteil unserer Autonomie und Voraussetzung für alle anderen Freiheiten. Niemandem kann man verwehren, sich verständlich machen zu wollen. Nackt spazieren zu gehen muss erlaubt sein. Auch heute noch werden Leute zum Schweigen gebracht und, trotz Internet, in die vier Wände ihrer Privatheit gesperrt, wo sie auf ihren nicht veröffentlichbaren Erfahrungen herumkauen wie auf trockenen Semmeln, die sich nicht herunter schlucken lassen, sondern ausgespuckt gehören.

„Es fällt schwer, von sich selbst zu sprechen, aber es ist schön“, heißen die Selbstzeugnisse von Natalia Ginzburg. Umgekehrt könnte man sagen: Es fällt schwer, gut zuzuhören, aber es ist interessant. Für Mireille Mathieu ist das Über-sich-selbst-sprechen sichtlich noch kein Vergnügen. Sie müsste das Journalistenbürschchen zum Teufel jagen und dann mal so richtig auspacken. So lange sie es nicht kann, bleibt uns nichts anderes übrig, als auf die Gründe zu achten, die sie daran hindern.

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