+++ Ein Jahr Ich. Heute. 10 vor 8. +++ Wir schreiben täglich +++
Auf diesem Blog schreiben Frauen. Und Männer lesen. Wir vermuten natürlich, dass auch viele Frauen lesen. Aber von Männern wissen wir es, weil sie häufiger darüber schreiben, dass sie lesen. Der typische kommentierende Leser der Beiträge im letzten Jahr war männlich, gut ausgebildet, oft in technischen Berufen und dort im mittleren Management tätig – oder mindestens jemand, der sich die Internetidentität eines gut ausgebildeten Mannes im mittleren Management zugelegt hat. Denn Sie wissen schon: „Im Internet weiß niemand, dass Du ein Hund bist“, auch wenn Cookies, Tracking-Methoden und die Anforderung zahlreicher Internetseiten, sich mit einer gültigen Mailadresse und einem Klarnamen zu identifizieren, schwerer gemacht haben, was so beliebig vermutlich ohnehin nie war: im Internet jemand ganz Anderes zu sein.
Doch spielt es überhaupt eine Rolle, ob Frauen oder Männer schreiben oder lesen? Wer die Begriffe „Frauen“, „Männer“, „lesen“, „schreiben“ googelt, wähnt sich gleich mittendrin im Geschlechterkampf: Frauen lesen angeblich lieber Romane als Männer, weil sie schon früher diejenigen waren, die den Kindern Geschichten erzählt haben; Männer hingegen suchen nach sachlichen Informationen und lesen folglich lieber Zeitung; Qualität wiederum sei, bei Verfassern wie Rezensenten, männlich; der unterstellte ideale Leser sei immer ein Mann; und das gelte nicht nur für Romane und Zeitschriften, sondern, Sie ahnen es: auch für Blogs. Was einige dann wiederum darauf zurückführen, dass Frauen lieber private Geschichten erzählen, erfolgreiche Blogs aber seit dem zweiten Irakkrieg 2003 vor allem als Forum für (politische) Gegen- oder Alternativoffentlichkeiten wahrgenommen werden.
Schreiben Frauen denn tatsächlich anders? Die Wissenschaft ist sich, wie so oft, nicht einig. Die einen bestreiten die Existenz spezifisch weiblichen Schreibens mit Verweis darauf, dass man schon die diese These zugrunde liegende Annahme einer fundamentalen Verschiedenheit der Geschlechter nicht belegen könne; die anderen gehen davon aus, dass Frauen tatsächlich anders schreiben und anders lesen. Sie sind aber wiederum uneins darüber, warum das so ist. Die einen postulieren eine weibliche Gegenkultur: Frauen schreiben besser, ohne Kampfrhetorik, können Dinge stehen lassen. Die anderen begnügen sich damit, festzustellen, dass die soziale Realität von Männern und Frauen in unserer Gesellschaft eine je andere ist und sich deshalb weibliche Erfahrungen wie jede andere Art von Erfahrungen aller Wahrscheinlichkeit nach auch in den Texten zeigen wird.
Lesen Männer anders? Wie lesen Sie, lieber Leser, dieses Blog? Manch ein kommentierender Leser hat im letzten Jahr vermutet, dass Frauen, die hier schreiben, Mitglieder einer feministischen Weltverschwörung sind, die Männer diskriminieren (zum Beispiel, wenn sie für Quoten votieren): „Einseitiger Frauenlobbyismus“; „Benachteiligung von Männern“; Frauen, die „Jungen generell in der Täterrolle sehen“ und das, obwohl Männer ohnehin „mehr Nachteile durch das Patriarchat“ hätten als Vorteile und man sich als Mann zu vielen Themen gar nicht mehr äußern könne, ohne als „femiphob zu gelten“. Fast genauso verwunderlich ist es, dass Beiträge wie etwa jener über das Älterwerden explizit dafür gelobt werden, „ohne jegliche Gender-Thematik“ auszukommen (was ja auch tatsächlich auf mindestens fünfzig Prozent der Beiträge zutrifft). Ich weiß nicht, wie viele unserer Leser offenbar eine Genderperspektive erwarten, wenn sie lesen, was Frauen schreiben. Unter denen, die schreiben, dass sie lesen, fallen sie auf. Es fällt auch auf, dass sie das Blog weiter lesen, obwohl sich ihre Kommentare so lesen als würden sie sich über das ärgern, was sie lesen.
Sie glauben, das sei nun wiederum der zitierten männlichen Freude an der Kampfrhetorik geschuldet? Viele Leser inszenieren sich ganz explizit und in einer bestimmten Weise als „männlich“: als „durch und durch heterosexueller Mann“, als Mann mit „nicht sozialwissenschaftlichem Studium“, als Mann mit abgeleistetem Wehrdienst, als Ernährer, et cetera. Und sie fordern eine ähnlich klare Positionierung der Autorinnen: „Helfen Sie Flüchtlingen?“ „Haben Sie Kinder?“ „Arbeiten Sie überhaupt (richtig)?“ Und reagieren ungehalten, wenn sich Autorinnen einer solchen Positionierung verweigern. Dieser Versuch, sich und andere eindeutig zu positionieren, hat vermutlich weniger mit der vermeintlich männlichen Freude am Kampf als vielmehr mit der Tatsache zu tun, dass es im Internet ganz allgemein und auf einem Blog im Besonderen abgesehen von einem vielleicht falschen Namen kaum Informationen darüber gibt, mit welcher Art von Gegenüber man es zu tun hat – und es eben doch schwerer ist, als die Geschlechterklischees uns glauben machen wollen, männliches und weibliches Schreiben allein anhand des Geschriebenen zweifelsfrei zu unterscheiden. Vielleicht steckt hinter dieser Vehemenz, mit der Positionierungen formuliert und eingefordert werden, also schlicht das Bedürfnis, zu erkennen, mit wem Man(n) spricht – und auszuschließen, dass es nicht doch ein Hund ist.
Das in dem Positionierungsbedürfnis zutage tretende Misstrauen sollte uns daran erinnern, dass viele Angebote im Netz – unser Blog ist hierin keine Ausnahme – ihr Versprechen, interaktiv zu sein, noch längst nicht eingelöst haben. Wenn es aber gelingt, dass die Leser nicht dabei stehen bleiben (müssen), sich zu positionieren und das Gegenüber als Anderes zu identifizieren, wenn die Leser sich vielmehr in einem fremden Anderen selbst wieder erkennen, dann wäre die Welt doch besser, als Geschlechterklischees uns weismachen wollen. In Reaktion auf Annika Reichs Beitrag über die rätselhafte Krankheit ihrer Cousine schreibt ein Leser: „I took these broken wings und las von Lilan. Ich mag sie sehr, obwohl ich sie doch gar nicht kenne. In mir, da kenne ich sie aber. Die Lilan in mir.“
In diesem Sinne: Auf ein weiteres Jahr Ich. Heute. 10 vor 8.