Neulich erzählte mir eine befreundete Wissenschaftlerin, dass sie vor einer wichtigen beruflichen Entscheidung stehe und die spirituelle Lichtgestalt Amma um eine Audienz gebeten habe. Amma lud sie daraufhin nach Brasilien in ein Stadion ein, in dem sie ihr Umarmungsritual durchführte. Meine Freundin flog hin, stellte sich neben Amma in das brütend heiße Stadion und erklärte ihr Problem. Amma hörte zu. Und während sie einen Trostsuchenden nach dem anderen an ihre Brust drückte, löste sie das Problem.
Amma soll inzwischen mehr als 30 Millionen Menschen umarmt haben. Dass diese Zahl kaum stimmen kann, ist mir egal, eine Million würden schon reichen, um mich fassungslos zu machen. Außerdem hat sie das riesige Hilfswerk embracing the world geschaffen, das jährlich zehn Millionen Menschen ernährt, unzählige Frauen mit Bildungsprogrammen und Kleinkrediten unterstützt, Siedlungen, Schulen, Krankenhäuser, Universitäten baut und Witwen und Kranke mit lebenslangen Renten versorgt. Nach dem Skandal um die Gruppenvergewaltigungen in Indien hat sie schneller reagiert als die Regierung und im großen Stil Alarmgeräte an Frauen verteilt. Nach dem Erdbeben in Japan war sie vor allen anderen Hilfswerken in einem abgelegenen Küstenort.
Als ich nun hörte, dass Amma nach Berlin kommen würde, war klar: Da muss ich hin. Ich fuhr in die Arena nach Treptow, zog eine Nummer und wartete auf meine Umarmung. Auf der Bühne saß Amma im weißen Sari zwischen streng blickenden Helferinnen, die mit Rosenblättern warfen. Die Menschen standen in zwei Schlangen davor, lauschten indischen Musikern und tauchten reihenweise schluchzend bzw. strahlend aus ihren Umarmungen auf.
Mein Respekt vor dem, was ich gleich erleben würde, wuchs von Minute zu Minute. Was, wenn ich auch zusammenbrechen, oder diese Umarmung gar nichts in mir bewirken würde? Und was wäre beängstigender?
Bis es soweit war, schaute ich mir noch einen Film über Ammas Leben an. Ich hörte, dass sie als Reinkarnation einer hinduistischen Göttin gilt und 108 Namen trägt, von denen mir mehr als die Hälfte seltsam vorkommen. Unter ihnen: Amma, die die außergewöhnliche Tat vollbrachte, bei ihrer Geburt keinen Laut von sich zu geben, oder: Amma, die verehrt wird von sich bewegenden und sich nicht bewegenden Wesen.
Sie hat schon als kleines Mädchen mit dem Umarmen anfangen. Doch das hätte sie fast das Leben gekostet. Denn Menschen, egal welchen Geschlechts, Alters und Kastenzugehörigkeit zu umarmen, galt als schändlich, die Familie verstieß sie, sie machte weiter. Natürlich gehört zu so einem Lebensweg genauso viel Kampfgeist wie Sanftmut und natürlich steht dem Geheimnis ihrer Liebesfähigkeit die Fähigkeit zur rationalen Organisation zur Seite.
Nach dem, was ich in dem Film erfahren habe, glaube ich, Amma gibt wirklich, ohne etwas im Gegenzug zu erwarten, und ich glaube auch, dass sie das mühelos tut. Wenn es nicht mühelos wäre, dann wäre sie über die Umarmungen der ersten zwölf trostlosen Nachbarn niemals hinausgekommen.
Aber ich gebe auch zu: All das ist zu viel für mich.
Ich habe keine Ahnung, wie ich diese Gleichzeitigkeit von Schmuserei und Sozialpolitik, Göttin und Alarmgerät, Führungspersönlichkeit und Rosenblattregen unter einen Hut bekommen soll, wenn ich es nicht hintereinander denke, sondern: auf einmal.
Was mich aber zwischen all den Trostsuchern in Berlin am meisten umtrieb, war etwas anderes. Es war und ist die Frage, warum Menschen, die mit dem Hinduismus soviel zu tun haben wie ich, nämlich gar nichts, in Berlin im Jahr 2014 stundenlang Schlange stehen, um umarmt zu werden, und was das über die Welt aussagt, in der ich lebe.
Ich glaube, sie tun das, weil Ammas Umarmung keinerlei Bekenntnis fordert. Es ist ein Segen to go. Und entspricht damit dem Trend, sich auf nichts festlegen zu wollen. Im hinduistischen Kontext ist die Begegnung mit einem Guru oder einer karitativen Heiligen in alltägliche religiöse Rituale eingebettet. Hier ist sie ein spiritueller One-Night-Stand. Georg Lukács hat von der transzendentalen Obdachlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft gesprochen. Und die Umarmungsrituale in der Treptower Arena sind die Suppenküche dazu.
Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Menschen lässt sich vermutlich von Amma umarmen, um in diesem kurzen Moment etwas zu finden, dass ihn weiter suchen lässt. Die Menschen fühlen sich wohl in einer Gemeinschaft, die sich auf nichts einigen muss, außer auf die Suche nach Trost.
Trost und Trostlosigkeit sind längst relevantere Kategorien geworden als Heimat und Heimatlosigkeit. Die meisten Menschen, die ich kenne, können sich jedenfalls nicht mehr örtlich gebunden zu Hause fühlen. Sie wollen es in ihren Beziehungen und müssen es immer mehr in sich selbst. Und das funktioniert nicht. Mit dem Trösten ist es wie mit dem Kitzeln und dem Küssen – es geht nicht alleine. Das englische Wort ist da viel ehrlicher, es hat das Gemeinsame in der Vorsilbe: consolation.
Wie nun also meine Umarmung war?
Ich rückte in einer Reihe von Stühlen langsam vor, musste dabei meine Nummer sichtbar in der Hand halten, wurde dann relativ harsch auf die Knie gebeten, mein Vorgänger wurde am Arm zum Ausgang gezogen, und ich war dran. Ich versuchte Amma in die Augen zu blicken, aber sie blickte durch mich hindurch, während ich dazu angehalten wurde, mich an ihr Schlüsselbein zu schmiegen. Sie murmelte mit tiefer Stimme: „Meine Liebe. Meine Liebe. Ma-ma-ma-ma-ma-ma.“ Ich überlegte, ob sie mich oder ihre Liebe meinte, bevor ich einmal kurz versank. Dann tauchte ich wieder auf, Amma drückte mir etwas in die Hand, und die Helferinnen führten mich zum Ausgang.
Ich stieg strumpfsockig von der Bühne und fragte mich, warum ich mich nicht gemeint fühlte, und ob bei mir spirituell Hopfen und Malz verloren ist. Doch dann wurde mir klar, dass es genau darum ging, nicht individuell angesprochen zu sein. Es ging weder um Amma noch um mich, sondern darum, durch Entindividualisierung getröstet zu werden, und mir zu zeigen, dass ich genau damit nicht alleine bin. Die Umarmungen spenden also exemplarisch Trost und stiften Gemeinschaft, und das ist viel großartiger als alles, was ich erwartet hatte.
Als ich mir meine Schuhe wieder anzog, öffnete ich meine Hand und fand darin ein Rosenblatt und ein Bonbon mit der Aufschrift: California Früchte.

Alles hat eben einen Preis. Individualisierung, Säkularisierung, Emanzipation. Freiheit.
Noch immer einer der, nein DER Grosstrend aller westlichen Gesellschaften, gestern, heute, morgen. Und während wir die Gewinne feiern, gerade die intellektuell, materiell oder emotional Starken, legen wir über die Verluste meistens den Schleier der Rückständigkeit, die Scham des Provinziellen und die Tradition der ostentativen Milieuverachtung.
Dass wir immer etwas verlieren, wenn wir etwas gewinnen, dass man niemals alles haben kann, dass die Entscheidung für a fast unvermeidlich auch eine Entscheidung gegen b ist, wird selten thematisiert. Noch viel weniger wird thematisiert, was Freiheit für die materiell, intellektuell oder emotional Schwachen (auch) bedeuten kann. Die Verarbeitung der unvermeidlichen Verluste überlassen wir der Literatur, dem Film, der Kunst.
Bindungs- und forderungsfreie Ummarmung ist eine Erinnerung daran, dass die Lösung aus Gemeinschaften, die als drückende Pflichten empfinden werden leicht ist. Die Stiftung neuer dagegen schwer, wenn diese mehr sein sollen, als unbeschwerte Freizeitzusammenkünfte.
Gruss,
Thorsten Haupts
Hurra!
…und Teufel auch, was für ein schöner und schlauer Text! Musste erst Frau Reich kommen, um in Worte zu fassen, was mit mir in der Westkurve abgeht, wenn die 60er a Kistal machen!
Lieber Herr von Jordan, wenn Sie mir jetzt noch erklären würden, was “a Kistal” ist, dann wäre meine Freude über Ihre Nachricht kaum zu steigern. Viele Grüße Annika Reich
Ohh..
…Verzeihung: 60er=TSV 1860 (Münchens wahre Liebe, in Abgrenzung zum ungleich erfolgreicheren aber seelenlosen FC Bayern); Westkurve: Fanblock im städtischen Stadion an der Grünwalderstrasse, üblicher Weise auch als “das 60er” bezeichnet; Kistal: bayerische Verniedlichungsform einer Kiste, in Anspielung auf das in etwa kistenförmige Tor beim Fussball – Kiste machen= Ball in Tor (Kiste) schießen.
Unfassbar wie blamiert ich jetzt bin, indem ich meine eigene Banalität hier auswalzen muss. Aber ich stehe dazu, man kann das einsetzen für Umarmung: der höchstseltene Torerfolg spendet exemplarisch Trost und stiftet Gemeinschaft. Er ist entindividualisiert und ich kann ihn mir einfach abholen. Er ist ja auch ähnlich gegenstandslos wie die Umarmung eines fremden Menschen. Lustiger Weise führt der Torerfolg aber wieder dazu, dass sich fremde Menschen umarmen.
Ohne Bekenntnis geht allerdings nichts bei 60! Als one-night-stand funktioniert das nicht. Der Reiz ist aber vielleicht wirklich ein ähnlicher.
Jetzt zu meiner Ehrenrettung: Ich würde jeder Zeit 2-3 Heimspiele sausen lassen, um mich von Amma drücken zu lassen.
Die Umarmung im Modus des 60er-Fans – wenn das die Beobachtungen in Treptow nicht herrlich weiterdreht! PS: Lustig, jetzt ist mir vollkommen schleierhaft, wie ich “A Kistal” nicht als Tor erkennen konnte. Das kann nur daran liegen, dass ich in den letzten Tagen so viel über Spiritualität & Co. nachgedacht habe, dass ich mich gefragt habe: Meint er “Kristall”? Kein Witz.
Herrlich
California Dreaming
Here I come
If we ware going to San Franzisko
Amma...gibt Beispiel-Früchte...Gleichnisse.
Die Frucht des Human-Sein…durch ihr humanes, Not wendendes, handeln…des eigenen Human-Sein.
Und die kalifornischen Früchte…Holly-wood…(deutsch)Stechpalmen-wald.
Wir sollten tief nachdenken bevor wir uns als Nummer in eine Warteschlange stellen…
um uns von einem Geist umarmen zu lassen, dessen Früchte-Wirkungen wir nicht kennen…
wir könnten zu Stechpalmenumarmungen manipuliert werden…Stechpalmengesellschaft werden.
Auf Basis “Human-Sein” denken, hilft zum “Human-handeln-Sein”…oder sind wir schon im
Stechpalmenwald mit Stechpalmenumarmungen als Stechpalmen-gesellschaften-schlangen?!
DAS SE(H)-GEN to Go…das “Geistauge”(Gehirn) zum “einsichtigen” gehen…Waldgang…
“Garten Eden” oder “Stechpalmenwald”…sowohl allein, als auch als Gesellschaft.
Schöner Beitrag, liebe Autorin. Kann zum tieferen denken führen…Geistumarmung(en).
Gruß
W.H.
Es zeigt eigentlich nur eins ...
Der Mensch ist ein Krüppel der ohne Krücke nicht über die Runden kommt.
Pappbecher
Was ich wohl nie begreifen werde, ist die Tatsache – um in Ihrem Bild zu bleiben – warum die Menschen Pappbecher für eine tolle Erfindung halten.
Pappbecher sind doch toll: für den Kindergeburtstag. Habe gerade mal wieder einen überlebt, weiß also genau, wovon ich spreche…
D'accord, beim Kindergeburtstag
Ja, beim Kindergeburtstag können sie nützlich sein, auch wenn dadurch riesige Berge Müll produziert werden.
Wenn ein Erwachsener immer noch aus dem Pappbecher trinkt (und es toll findet), was sagt das dann über ihn in kultureller Hinsicht aus? Und was im Kontext ihres sprachlichen Bildes?
Hallo Herr Werlau
Schon mal über einen eigenen Blog nachgedacht?…ohne Kommentarmöglichkeit, eher wie Herr Gumbrecht?…oder gibt es schon? Ich wäre Ihr Dauergast:=)
Hoch-Tief?-Achtungsvoll
W.H.
Was ist das Besondere?
Segen ist immer to go. Nach dem Segen geht man.
Und das heißt? Dass Sie meinen Titel nicht treffend finden, oder dass Ihnen die ganze Argumentation nicht einleuchtet?
Text follows Titel
Naja, im Text steht ja – zum Glück – das selbe drin wie im Titel. Ich würde gerne dies “Trost und Trostlosigkeit sind längst relevantere Kategorien geworden als Heimat und Heimatlosigkeit.” genauer elaboriert wissen, dies “Und entspricht damit dem Trend, sich auf nichts festlegen zu wollen.” auch.
Danke.
Es kommt bei dem Gedanken zu Trost und Heimat darauf an, wie man den Begriff “Trost” versteht. Ich verstehe ihn eher als nachhaltige Verbundenheit (consoling) denn als zeitlich begrenzte Reaktion auf Trauer. Und damit hat er viel von dem übernommen, was Heimat (wenn auch nur als Sehnsuchtsort) mal war, und ist anders als der Begriff der Heimat, der ja aus vielerlei Gründen nicht mehr umhinterfragt positiv benutzt werden kann, anschlussfähiger. Aber: das Thema ist zu groß und bedürfte natürlich viel mehr Differenzierung. Das sehe ich genauso. Nur nicht hier und nicht in ein/zwei Sätzen. Ich kann es entweder so anreißen wie getan oder einen ganzen Artikel darüber schreiben, alles andere wird platt. Mit dem zweiten Punkt geht es mir genauso: Über den Trend, sich auf nichts festlegen lassen zu wollen, habe ich einen ganzen Roman geschrieben. Ich habe diese Phrase hier in dem Vertrauen benutzt, dass sie sich im Kontext der Argumentation erschließt und auch funktioniert, wenn sie so unelaboriert bleibt. Alles andere muss in anderen Textformen stattfinden.
Ne, ist super, danke
Das mit Heimat war interessant, dazu kann ich weitergoogeln. Danke.
Naja, dass sich Leute auf nichts “mehr” festlegen wollen, halte ich für falsch, ich denke, sie legen sich anders (zB wenns um Beziehungen geht – später) fest. Aber dazu gibts sicher empirische Studien, und ist in manchen Kreisen sicherlich auch so. Ich weiß zwar nicht, in welchen, aber Sie sicherlich.
Um noch einmal das “to go” aufzugreifen: Das Besondere an “Segen to go” scheint mir nicht die Tatsache, dass danach gegangen wird, sondern dass er überhaupt to go geordert werden kann. Entscheidend ist also nicht zuletzt, was davor (nicht) stattfindet: ein Gottesdienst zum Beispiel. Stattdessen wird der Segen zum Cappuccino: warm, aufmunternd, fühlt sich irgendwie gut an…
H. Dietz
@Hella Dietz: to go
Sehr geehrte Frau Dietz,
ich kann nachvollziehen, was Sie meinen. Meiner Meinung nach wäre die Wirkung dieses Segens allein aber stark begrenzt. Wenn die Warterei vor der Umarmung nicht eine kontemplative Phase erzwungen hätte, sondern Frau Reich direkt nach Ankunft am “Umarmungsort” von Amma umarmt worden wäre, dann halte ich es für unwahrscheinlich, dass wir heute diesen Blogbeitrag lesen könnten. Oder anders: Wenn Sie am Gänseliesel aus heiterem Himmel als Passantin von einer ausgelassenen Doktorantin umarmt werden, gibt Ihnen das vielleicht ein aufmunterndes Gefühl. Vielleicht bringt Sie das sogar durch den restlichen Tag. Ich glaube aber nicht, dass eine Wirkung über den nächsten regulären Schlaf hinweg bestehen bliebe.
Neben Ihr Bild möchte ich ein weiteres stellen, um zu verdeutlichen was ich meine:
Wenn Sie zu einem Konzert dazustoßen (oder das Konzert sogar nur daraus bestünde), wenn die Band vorne ruft “Ihr seit das beste Publikum der Welt!” und dann das letzte Lied schrammelt, glauben Sie, Sie würden sich beim Verlassen des Saales genauso fühlen, wie nach dem kompletten Programm?
Viele Grüße
Günther Werlau
PS: Vom Krimiautor van de Wetering habe ich vor längerer Zeit einen Erfahrungsbericht gelesen. Er ist als junger Mann nach Japan gegangen und hat dort in einem zen-buddistischen Kloster nach Erleuchtung gesucht. Nach 1 1/2 Jahren ist er, um zwei Erkenntnisse reicher, wieder nach Europa zurückgekehrt. Zum einen: Die Übungen, die er in Kobe gemacht hat, hätte er in analoger Form in jedem Jesuitenkloster um die Ecke auch machen können. Und: Diese Tatsache konnte er nur aus der Distanz erkennen, daheim wäre er darauf nie gekommen.