Nach dem Ende der Sowjetunion musste Kirgisien sich neu erfinden. Derzeit ist es das offenste Land der Region, doch auch hier werden patriarchale Tendenzen stärker.
Unser Kleinbus rumpelt durchs nördliche Kirgisien. Auf einem der Mittelsitze ist ein Mann in einen Hollywoodactionfilm versunken, der auf seinem Laptop läuft. Er ignoriert das kleine Mädchen, das sich an seine Rückenlehne klammert, um auf den Bildschirm schielen zu können; es trägt dieselben goldenen Ohrringe wie die goldbezahnte Großmutter, auf deren Schoss es sitzt. Vorne trinken zwei Männer Wodka aus einer Plastikflasche und versuchen meinen Reisegefährten zu überzeugen, mit ihnen ins Deutsch-Kirgisische Autohändler-Geschäft einzusteigen. Die meisten Passagiere sitzen still da, sehen aus dem Fenster auf ihr Land, das an ihnen vorbeizieht.
Hinten bei mir sitzt eine junge Frau, nennen wir sie Aygul, die mich anspricht und in ein Gespräch verwickelt. Ihre Familie gehörte einst zur Intelligenzia, sie selbst studiert jetzt an der Universität Soziologie und Islamisches Recht und fährt oft die Strecke zwischen Bishkek und dem Dorf, in dem ihre Familie lebt. Sie interessiert sich für mich und meine Reisen, genau genommen interessiert sie sich für alles und träumt davon, eines Tages in Europa zu studieren – am liebsten in Frankreich. Wir unterhalten uns, bis der Kleinbus hält. Mein Reisegefährte eist sich aus dem Autogeschäft los und schüttelt Hände. Zeit für den Abschied.
Das Land, in dem wir uns befinden, ist jung. Wie andere zentralasiatische Staaten auch, musste sich Kirgisien nach dem Zerfall der Sowjetunion als unabhängige Nation neu erfinden, mit einem Mal offen für die Welt. Dabei ist es gar nicht leicht, eine kohärente post-sowjetische Identität zusammenzusetzen: Die Sowjets brachten einst mit ihrer Grenzziehung verschiedenste kirgisische Clans zusammen und machten die Nomaden sesshaft. Während der Sowjet-Zeit wurden kirgisische Tradition und Volkskultur kaum gelebt und nun, nach 1991, werden sie im Dienste der neuen Republik wiederentdeckt und neu definiert.
Es sind nicht allein die Kirgisen, die an ihrer Nationenbildung beteiligt sind. Die Türkei fördert die gemeinsamen religiösen und ethno-linguistischen Bindungen, während im Süden, wo viele Usbeken leben, Saudi Arabien Moschen baut und religiöse Erziehung finanziert. Europa ist auch dabei, es unterstützt staatliche und soziale Entwicklungsprojekte. China, der größte Investor des Landes, überflutet die kirgisischen Märkte mit Billigwaren. Und dann gibt es natürlich noch Russland, das nie verschwunden ist.
Für die Passagiere, die aus dem Fenster sehen, sind diese Identitätsschichten und konkurrierenden Interessen überall zu erkennen: An den Jurten am Straßenrand, vor denen die halbnomadischen Bewohner ihre fermentierten Milchprodukte verkaufen; an den alten islamischen Lehmfriedhöfen, übersät mit kleinen Sternen und Monden wie mit Kuchendeko und an den glänzenden Metallkuppeln der Moscheen; an der Bankenwerbung an den Felsen der Berghänge; an den silbernen Lenins, die vor den Schulen posieren und der kyrillischen Schrift, die im Innern unterrichtet wird.
Die Lenins bringen es auf den Punkt. Mit dem Erbe eines halben Jahrhunderts als Teil der UdSSR, davor des russischen Reichs, ist Kirgisien untrennbar mit Russland verbunden. Noch immer gibt es eine bedeutende russische Minderheit im Land, und die Wirtschaft hängt von den Geldsendungen ab, die die kirgisischen Gastarbeiter von Russland aus nach Hause schicken. Russisches Staatsfernsehen ist allgegenwärtig und wirkungsvoll. Bei vielen älteren Bürgern verschmilzt übergangslos die Sehnsucht nach der einstigen sozialen Sicherheit und ideologischen Klarheit der Sowjetunion mit einer Bewunderung für Putins Russland. „Wer“, fragt uns ein Typ, „ist stärker – Putin oder Obama?“ Nicht, dass er über die Antwort im Zweifel wäre; aber er will hören, was wir denken.
Das ideologische Vakuum wird nach 1991 immer stärker auch von einer neuen Wertvorstellung gefüllt, die putinistische Paranoia vor der Seuche liberaler Propaganda und fremder Interessensvertretern verknüpft mit einer Rückbesinnung auf kirgisische Traditionen, die oft im Sinne einer konservativ-islamischen Identität zum Ausdruck kommt.
Beide Strömungen sind tendenziell anti-westlich und familienfokussiert. Sie führen dazu, dass von Frauen zunehmend erwartet wird, traditionelle Rollen anzunehmen, die von patriarchalen Strukturen vorgeschrieben werden. Zu Sowjetzeiten war die ideale kirgisische Frau eine Version der idealen sowjetischen – emanzipiert, ausgebildet, eine Mutter und eine Arbeiterin. Der plötzliche Umschwung von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft führte zu hoher Arbeitlosigkeit und begünstigte soziale Unruhe. Obwohl alle litten, brach für die Frauen mit all den anderen Nöten auch noch ihr sozialer Schutz und Status ein. Nach einigermaßen stabilen Jahrzehnten sind Männer wie Frauen nun gezwungen, ihre Rollen neu zu definieren und das hat zu einer weiteren sozialen Krise geführt, die noch zu den anderen hinzukommt. Es ist eine Umwelt, in der häusliche Gewalt zunimmt, ebenso wie Polygamie und Braut-Kidnapping – illegal, doch insbesondere in den ländlichen Gegenden mehr und mehr üblich – wird von den Familien häufiger unterstüzt als abgelehnt.
Für Aygul und ihre Generation, all jene, die nach 1991 geboren sind, ist nicht so sehr die Frage: „Wer ist stärker?“, sondern: „Wer wird am Ende recht haben?“ Derzeit ist Kirgisien das offenste Land der Region, es gibt Raum für öffentliche Debatten, für abweichende Meinungen und eine starke Zivilgesellschaft. Die vielen NGOs, die sich für Frauenrechte einsetzen, sind gut organisiert und vernetzt – aber sie werden auch sehr gebraucht.
Auf dem Weg zurück nach Berlin sitze ich neben einer anderen jungen Frau, die ich hier Zamira nenne. Sie macht gerade einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften und fliegt nach Istanbul, um mit einigen Kommilitonen an einem Austausch teilzunehmen, der von der türkischen Regierung gesponsort wird. Mit intensivem Sprachunterricht haben sie sich vorbereitet, und da das Kirgisische eine Turkprache ist, fiel es ihnen nicht allzu schwer und sie sind bestens gewappnet für die Reise. Zamira ist begeistert davon, reisen zu können. Sie ist zum ersten Mal in einem Flugzeug und wer weiß, ob solch eine Gelegenheit jemals wieder kommt. Wenige haben so viel Glück. Sie macht ein Selfie von uns beiden und ich frage mich, wo es wohl landen wird – auf einem sozialen Netzwerk aus Russland, aus Kirgisien oder doch bei Facebook? Zamira und Aygul wissen, dass man eine neue nationale Identität schafft, indem man neue soziale Identitäten erfindet. Im Moment können sie sich diese noch selbst für sich aussuchen.
(Übersetzung von Nora Bossong)