Glanzvoll scheitern. Die Künstlerinnen und Schriftstellerinnen Chris Kraus und Cookie Mueller im Porträt.

Ein Dutzend Bücher liegt auf meinem Nachttisch, aber es sind nur einige wenige, die Bücher zweier Frauen, die ich immer wieder aufschlage. „Edgewise“, gerade bei b_books erschienen, erzählt in unzähligen, miteinander verschachtelten Zitaten ihrer Freunde und Weggefährten das Leben der Underground-Ikone Cookie Mueller. „Walking Through Clear Water In a Pool Painted Black” ist ein 1990 erschienener Band mit Erzählungen von Cookie Mueller. „Torpor” ist ein Roman von Chris Kraus (2006), in dem es um die Jahre 1989 bis 1991 geht – den Berliner Mauerfall, den Zusammenbruch des Ostblocks, die beginnende Gentrifizierung New Yorks. Unter anderem.
Je mehr ich mich in das Leben und die Texte dieser Frauen vertiefe, umso mehr Verbindungen werden zwischen ihnen erkennbar. Beide könnte man als „Role Models“ für glanzvolles Scheitern lesen. Bei Mueller, die in „Edgewise“ mit einem Superlativ nach dem nächsten charakterisiert wird, scheint es mehr ein Strahlen als ein Glanz zu sein. Wobei viele der eindrücklichen Situationen, von denen ihre Freunde erzählen – großer, atemberaubender Auftritt in einem aus Resten selbst geschneidertem Abendkleid! After-Show-Party im Loft mit Hundefutter-Paté auf Silbertablett! – auch dem Geldmangel geschuldet sind, unter dem sie ihr Leben lang litt.
Chris Kraus dagegen, weniger extrovertiert, doch mindestens ebenso experimentierfreudig, verwandelte ihr Scheitern in fiktionalen Text. Es sind vor allem die Frauenfiguren ihrer vier Romane, Chris, Sylvie oder Catt, die das Scheitern vorführen. Das Material von Kraus‘ wie auch von Muellers journalistischen Texten und Kurzgeschichten ist weitgehend ihr eigenes Leben. Cookie Mueller, mutmaßen ehemalige Freunde in ihrer Biographie „Edgewise“, erlebte so viel, immer mehr als andere, dass sie sich darüber hinaus nichts ausdenken brauchte. Aber die tragische Wahrheit ist wohl, dass sie einfach zu früh starb, als dass sie als Autorin den Schritt darüber hinaus gehen konnte.
Im New York der späten 70er und 80er Jahre müssen die beiden Frauen sich gekannt haben – sie besuchen dieselben Clubs und Galerien, haben gemeinsame Bekannte. Während Kraus sich als eine beschreibt, die immer nur am Rand der „Gruppe der Beliebten“ steht, als die weniger Hübsche, die Missverstandene, gilt Mueller vielen als eine Ikone des Downtown-Nachtlebens. Sie ist eine gute Freundin von Nan Goldin, die sie in allen Phasen ihrer gemeinsamen Freundschaft fotografiert.
In „Torpor“ bewundert die Protagonistin Sylvie Green Nan Goldin von Weitem. Einmal bittet sie sie um einen „Blurb“, einen Waschzetteltext für einen von ihren Kurzfilmen. Goldin tut ihr den Gefallen. Auch wenn sie den Film offensichtlich nicht wirklich verstanden hat: „Ich schätze, es gibt nicht so richtig eine Geschichte.“ Ein Satz, den Sylvie – und damit auch Kraus – als niederschmetternd empfunden haben muss; ein weiterer Sargnagel für ihre Kunstweltkarriere.
Kraus wie auch Mueller finanzieren sich nach ihrem Eintreffen in New York zeitweise als Sexarbeiterinnen. Es ist einfach verdientes Geld und sie stehen zu dieser Phase ihres Lebens. Beide beginnen, ihre Kunst in Nachtclubs und Undergroundgalerien Manhattans zu zeigen und vorzutragen.
Das New York vor der Ära Rudolph Giulianis und seiner Nulltoleranzstrategie war bekanntlich ein aufregender Ort. Das Superstar-Konzept von Warhols Factory übte noch Strahlkraft aus, bekam aber zunehmend Konkurrenz: Die Club- und Galerieszene boomte und erfand sich neu, und in der Punkszene, der sich Kraus verbunden fühlte, scherte man sich sowieso wenig um Disco und Glamour. „Irgendetwas an dieser Ära, an den 1970er Jahren in New York, ist niemals so richtig herausgekommen“, sinniert Sylvie Green in „Torpor“. Chloé Griffins überaus aufwendige und reich illustrierte Cookie-Biographie „Edgewise“ mit seiner multiperspektivischen Erzählweise löst dies übrigens in weiten Teilen ein.
Chris Kraus dreht in New York trashige Kurzfilme mit Theorie-Überbau, Cookie Mueller, die in Baltimore zu den sogenannten Dreamlanders, dem Filmteam von John Waters gehörte, schreibt jetzt Kolumnen in Magazinen wie dem East Village Eye, der Village Voice oder Details. Ihre Texte, vor allem die Ratgeberkolumne „Ask Dr. Mueller“, haben viele Fans. Sie arbeitet auch an autobiographischen Kurzgeschichten. Mueller hatte die Gabe, Texte zu schreiben, die sich so lesen, als erzähle sie sie gerade, erzählt Chris Kraus in „Edgewise“.
Doch die stets an der Kante lebende Mueller hatte sich mit HIV infiziert. Mitte der 80er, als es noch keine langzeiterprobten Medikamente gab, kam das einem Todesurteil gleich. In den letzten Monaten ihres Lebens bemüht sie sich um die Veröffentlichung ihrer besten Geschichten. Sie weiß, dass sie keine Zeit mehr hat, noch richtig berühmt zu werden, aber diese Geschichten will sie zumindest noch publizieren. Keiner der angefragten Verlage aber ist bereit, das Manuskript unverändert zu veröffentlichen.

Chris Kraus nimmt dies als Startschuss für ein neues Kapitel ihres bis jetzt nicht wirklich erfolgreichen Lebens. Die Idee zu einer literarisch orientierten Reihe bei Semiotext(e), dem Verlag ihres Mannes Sylvère Lotringer, hat sie schon lange. Mueller stirbt am 10. November 1989, einen Tag nach dem Mauerfall, an AIDS. Die Native Agents Series von Semiotext(e), bis heute eine Fundgrube für feministische und autofiktionale Texte, startet wenige Monate danach mit Muellers „Walking Through Clear Water In a Pool Painted Black“ (im Februar 2015 wird das schmale Buch erstmals auf Deutsch im Münchner belleville Verlag erscheinen).
„Die Reihe“, notiert Kraus in „Torpor“, in dem sie diesen biographischen Wendepunkt aus der Sicht ihres Alter Egos Sylvie beschreibt, „stellt narrative Werke in der Ich-Form vor, geschrieben von ihren heutigen und früheren Freunden und Freundinnen. Weil die meisten von ihnen Frauen sind, versteht Sylvie die Reihe als philosophische Intervention. Obwohl sie in der ersten Person geschrieben wurden, sind die Bücher wohlkonstruierte Schimpftiraden, keine introspektiven Autobiographien. Endlich, denkt sie: ein öffentliches, weibliches Ich, das nach Außen orientiert ist, das auf die Welt abzielt, das revolutionärer ist als die männlichen Avantgarden des 20. Jahrhunderts!“
Was für die Autorinnen der Native Agents Series gilt – neben Mueller sind das Autorinnen wie Kathy Acker, Shulamith Firestone, Michelle Tea oder Ann Rower – das setzt Kraus auch in ihren eigenen literarischen Texten um, die sie ebenfalls in dieser Reihe veröffentlicht: Sie sind autobiographisch, feministisch, radikal. Wie ironisch, dass Kraus‘ längst als Kultbuch gehandeltes Debüt „I Love Dick“ (1998) die als klassisch weiblich geltende Form eines Briefromans hat! Doch Chris Kraus löst sich von der mehr oder weniger dokumentierenden Collage, sie nähert sich der Romanform, und ihre Protagonisten reisen von New York nach Berlin, um ihre Abenteuer dort zu erleben.
Denn das Gegenmodell zu dem verblassenden kulturellen Fixstern New York, wo die Mieten steigen und die meisten Künstler aus der Innenstadt verdrängt werden, ist die Inselstadt. Kraus und Mueller sind Berlinfans. Hier gibt es sie noch, die „geheimnisvollen Referenzen und Zweideutigkeiten, die […] wechselnden Hierarchien des Glamour“, die Kraus in „Torpor“ als New York-typische Attribute preist.
Sie kommen für die Filmfestspiele. Cookie Mueller – „deutsche Filme waren damals wahrscheinlich die besten der Welt“ – ist ab 1981 mehrmals akkreditiert. Sie freundet sich mit deutschen Underground-Filmstars wie Udo Kier und Tabea Blumenschein an und zieht durch das Nachtleben. „Alle Berliner Partymenschen waren großartig“, schreibt sie in einer ihrer Kurzgeschichten, und, so direkt wie sarkastisch: „Ich war im arischen Himmel.“
In großen Zügen inhalieren beide die „Berliner Luft“. Das „Geheimnisvolle“, das New York schon lange abhandengekommen ist, ist hier noch zu spüren – „im ehemaligen Osten hält sich hartnäckig noch etwas davon“, notiert Kraus. 1996 stellt sie in Berlin ihren einzigen Langfilm „Gravity & Grace“ vor (das qualvolle Scheitern der Pressevorführung und damit auch ihrer Karriere als experimentelle Filmemacherin steht im Zentrum ihres zweiten Romans „Aliens & Anorexia“). Heute hat sie ihre Phase des Scheiterns überwunden, ist jetzt Schriftstellerin und nach Los Angeles gezogen.
Jetzt, 25 Jahre nach dem Mauerfall, sind die Gegebenheiten für die Bohème – aus welchem Land auch immer – lange nicht mehr so traumhaft. Ein glamourös scheiterndes Leben wie das von Cookie Mueller ist heute kaum mehr möglich. In „Torpor“ heißt es über das Jahr 1991: „In größeren Orten wie Manhattan kann man nicht mehr auf interessante Weise arm sein.“ Eine Aussage, die mir ziemlich aktuell vorkommt.
Scheitern an der Kante, am Abgrund des Messers Schneide, auf der "gelebt" wird.
Hallo Fr. Wurster,
Kante, Abgrund, Schneide…(Grat-)Liebe, (Grat-)Leben ist quasi eins.
Die Erde, als Lebensbasis, könnte/sollte? “Reifebeispiel” sein für einen “runden”, gelungenen Lebensweg. 360 Grad, graduierte Kugeloberfläche,
nicht messerscharfer Grat! Wenn Reifwerdung auf dem Weg Selbstfindung, Selbstverwirklichung…der Geistreifeweg stagniert,
Wahrnehmungsmagel entsteht, dann findet “Leben-Grat-Wanderung”, an Stelle “Leben-Grad-Reifewanderung”, statt. Oft auf “Basis” einer besonderen Fähigkeit, die aber auch nur ein “einsames?, krankes?, verkümmertes? Geist-Inselleben” bietet, das dem Ruf der “Sirenen”(besondere Begabung, Fähigkeit) gefolgt ist, oder mit dem Stuhl der Unterwelt zu vergleichen ist, von dem sich irgendwann keiner mehr lösen kann, weil er mit ihm verwachsen ist, das Licht und die bunte Leben-Erd-Vielfalt nicht mehr wahrnimmt, die Seelensehnsucht nach Licht/ Geist”rund”reife.
Dieses messerscharfe, lebensgefährliche “Grat- anstatt Grad(uiert)-, (Rund)-Leben)” findet man oft bei “Künstlern ihres Fach’s”, “Fachgenie’s” oder schlimmer, bei Menschen die sich für “Künstler”, “Genie’s” halten und von ebenso “kranken?”, geistunreifen Menschen durch “Vergöttlichung”, “Anbetung”, “Verherrlichung”…auf des Messers Schneide am Leben gehalten werden.
Es fällt uns sehr schwer, denjenigen, der uns bewundert, für einen Dummkopf zu halten.
Marie von Ebner-Eschenbach
…ob es “einfach” (gesund) ist für die Seele…Sexarbeiterin?!
…das philosophisch wertvolle ist die “Rundreifeerkenntnis” des
Geistes als Lebenszweck auf und in der Erdnatur, denn diese “Wunder-bar(e)”, dieses bare, nackte Wunder Erde erlebend wahrnehmen zu dürfen endet mit dem Tode, der dann, wie oft “bejammert”, viel zu früh kommt…wenn das Leben gescheitert ist, Geist nicht rund geworden, Leben nicht rund “gelaufen” ist.
Gruß
W.H.