Ich. Heute. 10 vor 8.

Der Schamanenapparat

Eine Entdeckungsreise nach Sibirien.

Kozyrew-Spiegel, Bulgarien© ISRICAExperiment im Kozyrew-Spiegel

Nach 55 Stunden Zugfahrt kam ich endlich in Nowosibirsk an, ohne zu wissen, ob ich den „Schamanenapparat“ auch finden würde: ein gigantischer metallener Zylinder, mit Pelz gefüttert, gelagert im Keller eines sowjetischen Forschungsinstituts. Dieser Apparat sollte in der Lage sein, elektromagnetische Felder so zu verändern, dass er jedem, der hineinklettert, schamanische Visionen ermöglicht. Ich hatte darüber gelesen, und ich wollte es ausprobieren.

Das Abteil hatte ich mit einer Familie aus Omsk geteilt; der achtjährige Mischa hatte zu viel Ballett getanzt und musste nun alle drei Wochen mit seiner Mutter und seiner älteren Schwester nach Moskau reisen, um seine Arthritis behandeln zu lassen. Als Mischas warmherzige Mutter mich fragte, was ich in Nowosibirsk vorhätte, erklärte ich ihr, dass ich über Akademgorodok schreiben werde, die Wissenschaftsstadt, die in den 1950ern mitten im sibirischen Wald gegründet worden war. „Oh!“, sagte sie. „Haben Sie denn eine Sondergenehmigung?“ Sie sah mich skeptisch an, als ich erklärte, eine Sondergenehmigung sei nicht nötig. Obwohl ein Großteil der Forschung dort mit Waffen zu tun hatte, war Akademgorodok nie eine geschlossene Stadt gewesen. Tatsächlich war sie in der Sowjet-Ära eine Insel relativer Freiheit, fern von Moskau, eine akademische Oase, in der ausländische Bands auftraten und der erste Schönheitswettbewerb der UdSSR stattfand.

Und man experimentierte mit dem Schamanismus – einer alten Praxis, bei der heiligen Männern und Frauen zugeschrieben wurde, Zugang zur Geisterwelt zu haben, und Seelen wie Gesellschaften mit dem zu heilen, was sie dort fanden. Einer der Befürworter dieser Studien war Vlail Kaznacheev, Mitgründer der sibirischen Sektion der Russischen Akademie der Wissenschaften. Kaznacheev folgte den Lehren Nikolai Kozyrevs, eines Astrophysikers, der nach den stalinistischen Säuberungen viele Jahre im Gulag verbracht hatte. In Haft hatte Kozyrev die Sterne beobachtet und festgestellt, dass bestimmte Sterne einander rhythmisch „zublinzelten“, als würden sie kommunizieren. Aus seinen Beobachtungen entwickelte er eine eigene Theorie von Zeit, Raum, Energie und Kosmos. Als Alternative zu unserem Newton’schen Verständnis des Universums lässt „Kozyrevs All“ Raum für Besuche von To­ten, Hellsichtigkeit, telepathische Kommunikation und die Existenz des Göttlichen.

© Brücke Osteuropa, public domainAkademgorodok

Ich hatte von Kaznacheevs Institut in Akademgorodok – das Internationale Forschungsinstitut für Kosmische Anthropoökologie – in Susan Richards’ Buch „Lost and Found in Russia“ gelesen, in dem sie beschreibt, wie fasziniert sie war als sie in den Keller des Instituts hinabstieg und sich in diesen riesigen, mit Pelz gefütterten Metallzylinder legte. Obwohl sie von Natur aus Skeptikerin sei, schreibt Richards, habe sie sofort Visionen gehabt.

Es schneite in Akademgorodok an dem Morgen, als ich im Institut ankam. Ich wurde von Alexander Trofimow, einem freundlichen, bärigen Intellektuellen willkommen geheißen. Er setzte gleich zu einer Reihe komplizierter wissenschaftlicher Erklärungen an, in denen von Magnetfeldern, Polen und Vektoren die Rede war. Trofimow hatte früher als Kardiologe gearbeitet. Im März 1975 hatte er in Dixon, einem winzigen Außenposten am Rand des nördlichen Polarkreises, eine von der Sowjetunion finanzierte medizinische Studie zur Wirkung von Sonnenstürmen auf die Gesundheit der in der Arktis lebenden Menschen durchgeführt, wo es weniger atmosphärischen Schutz vor kosmischer Strahlung gibt. Dort lernte er Kaznacheev kennen. Sie arbeiteten zusammen und bauten eine Reihe von Apparaten, um mit Freisetzung kosmischer Information zu experimentieren.

© ISRICAKozyrew-Spiegel in Durankulak, Bulgarien

In einem der letzten noch von der UdSSR finanzierten Experimenten stieg ein Wissenschaftler mit drei willkürlich ausgewählten Symbolen in einen runde Metallkammer, die sich „Kozyrews Spiegel“ nennt. Etwa zur gleichen Zeit sollten 5.000 Freiwillige in allen Teilen der UdSSR einen Brief abschicken, in dem stand, welche der drei Symbole sie „sahen“. Die Mehrheit erriet alle drei Symbole richtig. Noch seltsamer sei, so Trofimow, dass etwa ein Drittel davon die Zeichen gesehen habe, bevor sie überhaupt ausgewählt worden seien. „Die Vergangenheit und die Zukunft existieren in der Gegenwart“, erklärte Trofimow. „Die menschliche Sprache reicht nicht aus, um das zu beschreiben. Es ist leichter zu zeichnen oder in Musik zu übersetzen.“

Ich fragte ihn nach dem Schamanenapparat. Könnte ich ihn sehen? Trofimow seufzte tief. Das Institut, das er und Kaznecheev in den frühen 1990er Jahren gegründet hatten, hatte schwere Zeiten hinter sich. „Es war eine Tragödie wie König Lear.“ Kaznecheev hatte die sibirische Sektion der Russischen Akademie der Wissenschaften zwar mit gegründet. Doch mit zunehmendem Alter habe sein Einfluss immer weiter abgenommen. Sein Nachfolger unterstützte die „Avantgarde-Wissenschaft“ nicht mehr. Sie verloren den schwarzen Wolga mit dem Chauffeur und ihre Büros im Hauptgebäude der Akademie.

Der schwere pelzgefütterte Schamanenapparat blieb im Keller zurück. „Inzwischen hat man ihn zerstört“, sagte Trofimow traurig. Heute sind die Büroräume am Ende des langen Flurs an junge Programmierer vermietet, die an ihren Arbeitsplätzen Software für Kunden in Australien und Amerika erstellen. Immerhin konnten sie ihren Kozyrew-Spiegel behalten. Trofimow führte mich in den nächsten Raum, wo ein großes Metallblech eine sanft geschwungene Spirale formte. Kaznecheev –— der im Jahr nach Lenins Tod geboren wurde, und dessen Name, Vlail, die Kurzform ist von „Vladimir Iljtisch“ – war vor zwei Wochen gestorben; heute werde der Spiegel das erste Mal seit seinem Tod benutzt. Als ich am Eingang stand, hörte ich ein Heulen. Es schien aus der Spirale zu kommen. Aber vielleicht war es auch nur der Schneesturm.

© privatAlexander Trofimov und Sally McGrane im Kozyrew-Spiegel

Trofimow ließ mich allein. Das Heulen dauerte an als ich mich in die Mitte der Spirale setzte. Ich schloss die Augen. Ich sah nichts Ungewöhnliches, reiste nicht durch Zeit oder Raum. Aber ich fühlte mich ruhig. Das, was ich im Laufe des Tages gehört hatte, ergab nun intuitiv Sinn. Dass die Toten uns nicht wirklich verlassen; dass man etwas träumen kann, bevor es passiert; dass sich das Leben, wenn man Glück hat, in plötzlichen, unerwarteten Visionen offenbart. Dass unsere Welt nicht nur logisch ist; dass es Dinge gibt, von denen wir wissen, dass sie existieren, auch wenn wir sie nicht anfassen oder sehen können. Dass die Beziehungen zwischen den Menschen wichtig sind.

Als ich am Abend ins Hotel zurückkam, war ich glücklich.

[Übersetzung Sophie Zeitz]

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