Ich. Heute. 10 vor 8.

Stadt Land Flucht

Carl_Spitzweg: Zeitungsleser im Garten, 1847

Carl Spitzweg: Zeitungsleser im Garten, 1847© The Yorck Project Carl Spitzweg: Zeitungsleser im Garten, 1847

Natur. Stille. Unberührtheit. Es gibt eine neue Sehnsucht nach dem Leben auf dem Land, zumindest wenn man danach geht, was sich an deutschen Kiosken derzeit gut verkauft. „Landlust. Die schönen Seiten des Landlebens“ heißt ein solches Magazin, „Landleben. Lebensstil mit Liebe zur Natur“ ein anderes. Man muss sich die Leser dieser Zeitschriften wohl als glücklichere Menschen vorstellen als all jene, die noch immer aus den Dörfern in Brandenburg, Thüringen oder Sachsen-Anhalt fliehen, auf der Suche nach Arbeit und Perspektive. Was hat das alles mit Philosophie zu tun? Wenig, möchte man meinen. Aber!

Während der Großteil der deutschen Zeitungsverlage unter der fortschreitenden Digitalisierung ächzt, erzielt auch ein anderes Genre gerade erste Erfolge: Philosophische Magazine, die nach einem ähnlichen Modell wie „Psychologie heute“ massentauglich aufbereitet sind und somit den Nischenbereich der Fachwelt verlassen. Schlicht „Philosophie Magazin“ heißt eines, „Hohe Luft“ ein anderes. Was suchen die Käufer von Land und Luft zwischen den Hochglanzseiten, was ihnen „Spiegel“, „Geo“ und „Schönerwohnen“ nicht mehr zur Genüge geben? Sechs Mutmaßungen.

1. Einen Weg aus der Überforderung: Wenn die Politik zu undurchschaubar, aber gleichzeitig zu drängend erscheint, man sie weder ausblenden noch sinnvoll mitbestimmen kann, die Stadt derweil auf uns eindröhnt in ihrer kulturellen und sozialen Heterogenität, in ihren aggressiven Widersprüchen, mag die Flucht ins Landhaus genauso verführerisch wirken wie das Versenken in Texte, die für Längerfristiges als das politische Tagesgeschäft geschrieben worden sind. Im Abgeschiedenen der Mark Brandenburg findet man genügend Muße, um mithilfe von Kant und Adorno auf Antworten zu kommen, die im hektischen Leben der Großstadt gerade so nötig sind.

2. Es ist knallharter Eskapismus: Siehe 1, doch in Wahrheit sucht man bei Kant und Adorno nur eine versunkene Zeit, eine, in die man sich weder einmischen kann noch muss, für die man nicht mehr verantwortlich ist. Im Kamin prasselt das Feuer. Draußen öffnet die Winterkirsche ihre zarten Blüten.

3. Es ist die neue Bürgerlichkeit: Elaboriert der Bildungshunger, der in der Philosophie gestillt wird, elitär die Sehnsucht, die man bei „Landlust“ pflegt. Nicht mehr das Marxismusheftchen aus den 70ern ist gefragt, mit dem man sich selbst und gern auch das ganze Proletariat befreien wollte, noch das bäuerliche Landleben, in dem man in groben Schuhen durch den Matsch watet, stattdessen versenkt man sich, in einem Kaschmirjäckchen auf der Veranda sitzend, in die Gedanken von Schopenhauer. Kontemplation als höchstes Gut.

4. Genau! Landleben und Philosophie sind die neuen Luxusgüter: Der Porsche verbraucht zu viel Benzin, die Louis-Vuitton-Handtasche, ob echt oder gefälscht, trägt mittlerweile wirklich jede und die hochspekulativen Börsenspielereien haben sich überraschenderweise als unsicher erwiesen.

5. Ach, was heißt die neuen Luxusgüter, eigentlich sind es die einzig erstrebenswerten Waren, an die wir noch glauben: Gütesiegel, ist darauf denn noch Verlass? Selbst die Aktienfonds für Risikoarme fühlen sich nicht mehr sicher an und die ökologische Landwirtschaft unterscheidet sich doch kaum noch von der herkömmlichen industriellen Produktion.

6. Sie suchen gar nichts anderes, sie finden es nur anders: Kontemplation, ob dank Schopenhauer oder Winterkirsche, passt einfach schlechter auf das Smartphone als der Newsticker, hier bewährt es sich noch, das gute alte gedruckte Blatt.

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