Die Gewaltspirale in Mexiko hat apokalyptische Ausmaße angenommen. Täglich erreichen mich Hiobsbotschaften aus dem Land, in dem ich lange gelebt habe. Der Protest nimmt jetzt unerhörte Dimensionen an. Persönliche Eindrücke über ein Land im Aufruhr.
Diesmal wird es schwierig… Was schreiben, wenn das Grauen jeden Tag größer wird und jede Nachricht die Grenze des schon längst nicht mehr Ertragbaren noch mal überholt. Jeder Satz erstirbt einem im Gedanken des Formulierens.
So geht es mir seit Wochen mit dem Land, in dem ich bis vor kurzem viele Jahre gelebt, geliebt und gearbeitet habe.
Gräber und immer noch mehr Gräber voller Toten, deren Namen man nicht kennt. Verschwundene, deren Gräber man nicht findet. Ein Land, in dem Drogenbanden besser geschützt und scheinbar weniger bedrohlich sind als Studenten.
„Das Land Pedro Páramos,wo die Toten lebendiger sind, als die Lebenden“, so der Essayist und Autor Juan Villoro in diesen Tagen auf der internationalen Buchmesse in Guadalajara.
Jeden Tag ein weiteres Facebook-Foto meiner mexikanischen Freunde, das in Schwarz getaucht war und hinter einem eisernen Vorhang aus Trauer und Ohnmacht verschwand. Wie eine Verräterin kam ich mir hier vor, im wohlgenährten, sicheren Berlin.
Und dort Ayotzinapa: ein gottverlassener, winziger Ort, nicht weit entfernt vom ehemals mondänen Acapulco, wo am 26. September 43 Studenten auf dem Weg zu einer Protestveranstaltung verschleppt werden und seitdem unauffindbar sind.
Einer von ihnen, der mit ausgestochenen Augen und abgezogener Gesichtshaut in einer Blutlache demonstrativ am Straßengraben abgelegt wird. Und seine vermutlich erschossenen Kommilitonen, die auf einer Müllhalde verbrannt, dann in Plastiktüten gepackt und in einem Fluss versenkt werden.
Der mit der Untersuchung betraute Staatsanwalt, der in der ersten Presse-Konferenz erklärt, er sei’s jetzt leid das viele Gefrage.
Der Staatspräsident, der auf Staatsbesuch nach China entschwindet und sich über Tage nicht zu dem Vorfall äußert.
Eine exorbitante Villa mit riesigem Pool mitten in Mexico Stadt, die, fast zeitgleich als riesiger Medienskandal durch alle Nachrichtenkanäle glitzert. Brisantes Detail: sie wurde der Präsidenten-Gattin vom größten privaten Fernsehkanal unter dubiosen Umständen überschrieben. Hochrechnungen, die danach auf Facebook kursieren, wie viele Jahre ein Normalsterblicher arbeiten müsste, um das zu verdienen, was diese als Schauspielerin bei besagtem Fernsehkanal als Monatslohn gezahlt bekam: mindestens 1.000 Jahre.
Für all dies steht Ayotzinapa, eine weitere unfassbare Variante in Mexikos apokalyptischer Gewalt-Spirale.
Doch mit Ayotzinpa scheint die Geschichte Mexikos jetzt umgeschrieben.
Inmitten der sich täglich überstürzenden Nachrichten bleibe ich ausgerechnet immer wieder an diesem Scheitel hängen: unfehlbar penibel gezogen und mit viel Pomade befestigt – penetrante Koordinate im festgefrorenen Dauerlächeln von EPN.
Wer es noch nicht weiß: EPN (Enrique Peña Nieto) ist mehr als der amtierende Präsident Mexikos. EPN ist vor allem das Abziehbild des smarten Politikerzöglings aus der Traumfabrik Televisa, die über 80% des medialen Marktes kontrolliert und für viele Mexikaner nach wie vor einzige Informationsquelle ist.
Wen wundert es, dass EPN kurz vor der Präsidenten-Kür noch unter großem medialen Aufwand mit einem der hauseigenen Fernsehsternchen, alias „la gaviota“ (die Möwe) verbandelt worden war, um die Interessensgemeinschaft zwischen Macht und Medien perfekt zu machen. Seitdem gleicht jeder seiner öffentlichen Auftritte einer einstudierten Telenovela: „the mexican moment“, in Fortsetzung.
Deswegen auch dieser absolut makellose Scheitel, der sauber und brutal trennt, was nicht durcheinandergebracht werden darf.
Unter diese zynische Trennung fällt sehr vieles in Mexiko, z.B. auch zwei sehr unterschiedliche Sorten von Analphabetismus. Der eines Präsidenten wie EPN, der auf die Frage, welche drei Bücher sein Leben bestimmt hätten, nervös wird und nur auf die Bibel kommt.
Und der weiter Teile des ländlichen Mexikos, den zu beenden Studenten wie die 43 aus Ayotzinapa angetreten waren; und die – ausgebildet in einer hochpolitisierten Schmiede von Grundschullehrern aus prekären Verhältnissen – zwischen den beiden oft einzigen Zukunftsperspektiven Drogenkarriere oder Emigration auf einen dritten Weg gesetzt hatten: Bildung in den ärmsten und entlegensten Dörfern des Landes.
Jetzt sind ausgerechnet sie unter grausamen Umständen zu „Maestros“ eines ganzen Landes geworden. „Ihre Körper sind verschwunden, aber ihre Namen sind in aller Munde und lehren uns ihre Würde und die Bedeutung von Bildung als einziger Möglichkeit zum Wiederaufbau einer Gesellschaft von ganz unten in einem Moment vollkommener Auflösung“, so Diego Lizarazo, Philosophie-Professor in einem der Solidaritäts-Videos zu Ayotzinapa.
Oder Carlos Perez, ein anderer Akademiker, in der gleichen Quelle „Nicht nur 43 Studenten sind auf einer Müllkippe verschwunden. Unser Rechtsstaat ist dort verschwunden. Unsere politischen Institutionen sind dort verschwunden. Unser Land ist verschwunden. Alles, was uns noch bleibt müssen wir aus der Zivilgesellschaft heraus nun alleine aufbauen.“
Seitdem: ein Mexiko in Aufruhr wie nie zuvor. Ein Land am Rande des politischen Ruins, am Abgrund. Und gleichzeitig: ein Aufbruch aus jahrelanger Resignation, zum ersten Mal durch alle sozialen Klassen im gemeinsamen Aufschrei vereint.9
Künstler und Landarbeiter, Studenten und Gewerkschaftler, Intellektuelle und Taco-Verkäufer, Priester und Taxifahrer, Kinder und indigena-Frauen, die sich alle mit den Angehörigen der 43 Studenten solidarisieren und ihre Wut gemeinsam hinausschreien: auf der Straße, im Senat, auf Facebook und Twitter, in politischen Kolumnen und in exponentiell Tag für Tag in Windeseile sich neu formierenden sozialen Netzwerken und Bürgerinitiativen. Eine Wahrheitskommission wird gefordert, der internationale Gerichtshof in den Haag soll sich Mexikos annehmen.
Anlässlich der wohl größten Demonstration, die das Land je erlebt hat, wird am 20. November auf dem Zocalo von Mexico Stadt EPN symbolisch verbrannt. Und mit ihm das gesamte politische System des Landes.
Das stand so nicht im Drehbuch von Televisa.
„The mexican moment“ wird jetzt gerade auf der Strasse weitergeschrieben.