Zum zwölften Mal fand in diesem Jahr das Weihnachtssingen des 1. FC Union Berlin statt. Es ist der größte Weihnachtschor der Republik.

Schon der Anfahrtsweg ist ein Ritual. Eine Dreiviertelstunde mit der Straßenbahn durch Ostberliner Viertel jenseits der Ringbahn, Plattenbauten, Einkaufszentren, Tankstellen, in Weihnachtslicht getaucht. Umsteigen an der Rhinstraße. Im Dönerladen sitzen ein paar Männer verbissen vor den Spielautomaten, in der Hoffnung auf einen, wenn auch noch so minimalen Gewinn, bevor die Läden zumachen, oder um die Zeit totzuschlagen, weil niemand zu Hause wartet. Von Haltestelle zu Haltestelle nimmt die Anzahl der Fahrgäste zu, die irgendetwas Rot-Weißes am Körper tragen. „Und Sie wollen alle zu diesem Weihnachtssingen von Union?“, fragt eine Frau ihre Sitznachbarin mit der praktischen Weihnachtsmannmütze (Vereinsfarben, Regenschutz, Weihnachten). „Wieviel kommen denn da?“ – „27500“, sagt die Frau, „mehr passen nicht rein ins Stadion.“ Das sind 10000 mehr als bei der letzten Pegida-Demonstration in Dresden, auf der auch Weihnachtslieder gesungen wurden. Die selbsternannten Kämpfer für das Abendland versuchen, Symbole und Rituale zu übernehmen und für ihre Zwecke umzudrehen oder zu missbrauchen. Weihnachtssingen zum Beispiel. Mitglieder der ostdeutschen Bürgerbewegung mussten in einem unversöhnlichen „Weihnachtsbrief der Neunundachtziger“ die Pegida-Anhänger darauf hinweisen, dass mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ einmal gemeint war, Mauern einzureißen, statt sich hinter neuen Mauern abzuschotten. Und auch im Stadion an der Alten Försterei mahnt der Pfarrer, ausgehend von der Weihnachtsgeschichte, sehr deutlich Solidarität mit Flüchtlingen und von Armut Betroffenen an. „Habt Freude an Gerechtigkeit.“ Aber es wird auch an diesem Abend das, was es alle Jahre davor schon war, ein riesiges Familienfest einen Tag vor Heiligabend. Soviele verschiedene Menschen sieht man sonst selbst in Berlin nicht auf einmal. Es gibt Säuglinge, die wahrscheinlich erst ein paar Tage auf der Welt sind, neben achtzig Jahre Älteren, am häufigsten sind Paare mit und ohne Kinder, aber auch Großfamilien und Grüppchen von Pubertierenden beiderlei Geschlechts, die die Weihnachtslieder zu Balzgesängen umfunktionieren. Und sie kommen längst nicht mehr nur aus dem Osten, sondern aus aller Welt.
Kurz nach 19 Uhr wird das Flutlicht ausgeschaltet und von da an beleuchten die Kerzen das Stadion, das selbst im Innenraum vollständig gefüllt ist. Dort bekommt man einen guten Eindruck, wie es einem Spieler der gegnerischen Mannschaft geht, der gegen einen zehntausendstimmigen Chor anrennen muss.
Der 1. FC Union Berlin ist ein Phänomen. Er ist nach wie vor und trotz zweiter Liga ein Familienbetrieb zwischen Konzernen. Als es dem Verein schlecht ging, haben die Fans Blut gespendet, als es aufwärts ging und das marode Stadion dem Aufstieg im Wege stand, haben sie es in unzähligen Arbeitsstunden umgebaut und schließlich zur Hälfte in Aktien erworben. Union-Fans können auch garstig sein, wenn ihnen etwas gegen den Strich geht. Der Trainerwechsel zu Beginn der Saison zum Beispiel. Der dadurch bedingte Verlust des Lieblingsspielers. Zuviele verlorene Spiele. Da kocht die Fanseele. Auch gibt es auch hier leider einige, die mit dem Engagement des Vereins für Flüchtlinge nicht einverstanden sind.
Macht hoch die Tür, das Tor macht weit
Seit 2003 gibt es das Weihnachtssingen. Es entstand ursprünglich als Guerilla-Aktion aus dem Bedürfnis beinharter Fans heraus, sich kurz vor Weihnachten Mut zuzusprechen, als ihre Lieblingsmannschaft im Keller war. Also schauten die Platzwarte weg, als 89 Leute über den Zaun kletterten, um auf der Mittellinie Weihnachtslieder zu singen, deren Texte sie sich aus dem Internet zusammengesucht hatten. Im zweiten Jahr machte der Verein mit, es kamen 400, in den nächsten Jahren wurden es so viele, dass die Veranstalter einen Chor aus einem Köpenicker Gymnasium als Vorsänger engagierten, eine Amateurbläsergruppe und einen Pfarrer für die Weihnachtsgeschichte. Und natürlich einen Weihnachtsmann. Die Fans brachten Glühwein in Thermoskannen und Plätzchen mit. Irgendwann kam das örtliche Wohnungsbauunternehmen als Kerzen- und Liederbuch-Sponsor dazu. Die Thermoskannen sind heute verboten, und zum ersten Mal mussten Eintrittkarten ausgegeben werden, weil im letzten Jahr der Platz nicht mehr für alle reichte.

Obwohl sich das Weihnachtssingen inzwischen zu einem Großevent ausgewachsen hat, macht es doch nicht den Eindruck einer kommerziellen Veranstaltung. Für viele im Stadion ist es der Moment zwischen Vorweihnachts- und Weihnachtsstress, der sie innehalten lässt. Eine moderne Kirche an einem der atheistischsten Orte Deutschlands. Die Fans beten eher den Fußballgott an („Mit Union schuf Gott ein Meisterwerk“), aber sie singen auch die komplizierten Weihnachtslieder mit, bis auf „Maria durch ein Dornwald ging“, das überlassen sie dann doch lieber den jungen Sängerinnen des Emmy-Noether-Gymnasiums.
Als ich vor drei Jahren mit einem Religionswissenschaftler das erste Mal zum Weihnachtssingen ging, war er schwer beeindruckt und hielt den Pfarrer für einen glücklichen Menschen. Es ist immer noch derselbe, Peter Müller, ein älterer Mann, der in seinem Fanschal fast zu verschwinden scheint und minutenlang nicht dazu kommt, die Weihnachtsgeschichte vorzulesen, weil die Fans erstmal „Es gibt nur einen Peter Müller“ singen müssen. Eineinhalb Stunden, sechzehn Weihnachtslieder, drei Fanhymnen und zehn Schlachtgesänge später geht das Flutlicht wieder an und die Besucher machen sich auf den Weg nach Hause. Auf dem S-Bahnhof ist eine der Kleinsten so erschöpft, dass sie nicht mehr stehen will. „Dich nehmen wir mit und deine Beine lassen wir hier zum Schlafen auf dem Bahnsteig“, sagt die Großmutter, aber dann trägt die Familie das halbschlafende Kind doch zusammen mit den Beinen in die S-Bahn Richtung Ostkreuz.
Ich. Heute. 10 vor 8 wünscht Ihnen ein schönes Weihnachtsfest.
Gesänge für den Fußballgott...und andere Gesänge für andere Götter.
Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man vor allem ein Schaf sein.
Albert Einstein
Weihnachtsgruß
W.H.
P.S. …Wer glaubt, ein Christ zu sein, weil er die Kirche besucht, irrt sich. Man wird ja auch kein Auto, wenn man in eine Garage geht.
Albert Schweitzer
[…] viaGesänge für den Fußballgott – Ich. Heute. 10 vor 8.. […]
und die anderen 11 Mal ?
“Zum zwölften Mal fand in diesem Jahr das Weihnachtssingen ….statt ”
Zu welchem Anlaß wurden denn in diesem Jahr noch Weihnachtslieder gesungen ? Pfingsten, Vatertag ?