Ich. Heute. 10 vor 8.

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Frauen schreiben. Politisch, poetisch, polemisch. Montag, Mittwoch, Freitag.

Im Südosten viel Neues

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Landschaft im Nebel© Cordelia DvorákLandschaft im Nebel

Griechenland im Winter. Ich bin zu Gast beim 55. Internationalen Filmfestival in Thessaloniki. Alle Wege von meinem Hotel mit dem eigenartigen Glamour versprechenden Namen Queen Olga führen mich am winterlichen Meer entlang Richtung Innenstadt. Wie eine von Angelopoulos’ Statistinnen in Landschaft im Nebel fühle ich mich zwischen all den Hundebesitzern, Liebespaaren, Fischern, Joggern und Fahrradfahrern, die diesen mediterranen Malecón selbstverständlich wie ihr ausgelagertes Wohnzimmer in Beschlag genommen zu haben scheinen.

Trotz Nieselregen und Kälte lassen sie sich den Ausblick aufs Meer als tägliche Meditation über eine immer noch nach wie vor ungewisse Zukunft nicht nehmen.

Mehrmals am Tag grüße ich innerlich meinen griechischen Film-Großmeister; und bin beglückt, als sich bei einem Abendessen meine Tischnachbarin, eine eindrucksvolle Lady mit langen blonden Locken, nach einigen Sätzen als Angelopoulos’ Witwe und Produzentin herausstellt.

„Wie im wilden Westen“, beschreibt der engagierte Direktor des Goethe-Instituts von Thessaloniki, Peter Panes, die Zustände, die noch bis vor kurzem den Umgang der Griechen mit dem öffentlichen Raum geprägt haben: Alles, was über die eigene Haustür, die Familie und die engsten Freunde hinausreichte, ging einen nichts an. Keiner fühlte sich zuständig.

Wir sitzen im sonnenbeschienenen Innenhof des Goethe-Instituts bei einem Glas frischgepressten Orangensaft und Panes berichtet von seiner zweiten Amtszeit in der griechischen Metropole, die genau mit dem offiziellen Ausbruch der Griechenland-Krise zusammenfiel.

In einem durch und durch klientilistischen System, so Panes, hatte man sich über Jahrzehnte darauf verlegt, nur der Familie und den engsten Freunden zu trauen. Auf den Staat war kein Verlass. Ausgerechnet den Griechen ist in der kompletten Entmündigung durch eine autoritäre Zwei-Parteien-Struktur das Selbstverständnis der polis abhanden gekommen. Merkmal eines nach wie vor unaufgearbeiteten Erbes der Diktatur.

Viele Projekte zur Re-Sensibilisierung des politischen Bewusstseins in der Zivilgesellschaft hat er mit lokalen Partnern vor Ort inzwischen angestoßen. So z.B. ein EU-gefördertes Residenzprogramm (ARTECITYA) für Künstler aus ganz Europa, die während eines dreimonatigen Aufenthaltes in Thessaloniki mit Vorschlägen für Kunstaktionen im öffentlichen Raum neue Visionen für eine „Stadt der Zukunft“ in Zusammenarbeit mit lokalen Kuratoren, Museen aber auch Stadtbewohnern entwickeln können.

Oder aber die Plattform des Cultural Innovators Network (CIN), eine ursprünglich im Zuge des arabischen Frühlings gestartete Initiative, die jungen, zivilgesellschaftlich engagierten Aktivisten an der Schnittstelle zwischen Kunst und Politik die Möglichkeit gibt, zukunftsgerichtete Start-up-Projekte in einem Open Call einzureichen, gemeinsam zu diskutieren und mit geladenen Spezialisten weiter zu entwickeln.

Moderne agorá auf dem alten Markt in Thessaloniki, Juni 2014 © Vasiliki ElefteriouModerne agorá auf dem alten Markt in Thessaloniki, Juni 2014

Nach CIN-Foren in Alexandria (2012) und Istanbul (2013) kamen im Juni 2014 über achtzig junge Innovatoren aus dem Mittelmeerraum nach Thessaloniki, um einen wie dafür geschaffenen Ort wieder zum Leben zu erwecken. Ganz im Sinne der antiken agorá wurde der alte römische Markt im Zentrum der Stadt zur internationalen Bühne, um dort eine Woche lang von morgens bis spätnachts über Mitbestimmung und nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel im veränderten Europa zu diskutieren.

Yiannis Boutaris, der bereits zum zweiten Mal vereidigte Bürgermeister Thessalonikis will sich nicht immer nur auf den negativen Fokus in der Krise konzentrieren: „Alles kann ein Problem sein, aber auch Ehrgeiz und Herausforderung werden, wenn man sich dem Problem stellt.“

Ich treffe ihn in seinem geräumigen Büro im Rathaus. Mit seinen Hosenträgern, Ohrring, Bürstenschnitt, Nickelbrille und mehreren Tatoos hat er so gar nichts von einem Parteipolitiker. Selbst in Brüssel wird er inzwischen als eine Art Leuchtturm in der griechischen Politikszene gehandelt und hat die Stadt tatsächlich zu einem Ausnahmemodell in der Krisen-Landschaft gemacht. Für die Wähler aus dem eher konservativen orthodox geprägten Norden war er, der bekennende trockene Alkoholiker, Atheist und Hedonist, erstmal eine ziemliche Herausforderung.

Jetzt sitzt er vor mir und erklärt mir mit Zeichnungen und Plänen das Ausmisten im Augiasstall der öffentlichen Verwaltung. “Ich bin kein Zauberer. Aber ich verstehe etwas von Management, ich weiß, wie man kämpft. Und ich arbeite hart. Gemeinsam werden wir es schaffen.“

Die Autorin im Gespräch mit Yiannis Boutaris.© Zoe KoutalianouDie Autorin im Gespräch mit Yiannis Boutaris.

Das Schwierigste sei, dass seine Landsleute erstmal mühsam lernen müssten, sich an einen Tisch zu setzen, konsensfähig zu werden, erklärt er mir. Er selbst experimentierte das gerade im Stadtrat, wo zum ersten Mal auch Faschisten mitregieren.

Während sein Vorgänger im Gefängnis sitzt, hat er einen externen Wirtschaftsprüfer engagiert – „Wir müssen genau wissen, wie arm wir sind.” – und ein neues Organigramm in der Verwaltung durchgesetzt, damit Administration und Politik nicht mehr gegeneinander arbeiten.

Von den ehemals 5.000 Mitarbeitern in einem aufgeblasenen Beamtenapparat ließ er ein Drittel, da er sie nicht entlassen konnte, umschulen: Schnellkurs in Fundraising. Allein 70 Millionen Euro akquirierte die Stadt zwischen 2011 und 2014, so aus EU-Geldern, 2 Millionen bekam sie von privaten Sponsoren.

„Als Manager hat Boutaris das Vertrauen in die Politik wiederhergestellt, Transparenz in die Finanzen gebracht. Die Bürger fangen an, sich jetzt mitverantwortlich zu fühlen“, bestätigt Giorgios Farfaras, Gründer von GreenWays, einer der vielen neugegründeten Kooperativen zur Stärkung nachhaltiger, sozialer Überlebensformen.

Auch Antony Karagiorgas ist erleichtert, dass die Stadt wie von einem jahrzehntelangen Mief befreit scheint. Er ist Präsident von Thess-DIKTIO, einem Zusammenschluss von inzwischen über sechzig aus der Krisenbewältigung entstandenen Bürgerinitiativen, zu denen auch der erste Komunalgarten PERKA, der kooperative Bio-Supermarkt Bioscoop oder die non-profit orientierte kollektive Trinkwasserkooperative K136 gehören.

Erstes, selbstorganisiertes Biogartenkollektiv auf dem ehemaligen Militärgelände Karatasou, ausserhalb von Thessaloniki© PERKAErstes, selbstorganisiertes Biogartenkollektiv auf dem ehemaligen Militärgelände Karatasou, ausserhalb von Thessaloniki

Dabei wollte Boutaris, einst erfolgreicher Winzer, nie Politiker werden. Mit einem Verein zur Rettung der Braunbären hat alles angefangen.

2010 gründete er dann mit mehreren Mitstreitern die „Initiative für Thessaloniki“. Schon dort wurden Ideen entwickelt, um dem ehemaligen kulturellen Meltingpot des Nahen Ostens sein Erbe aus einer über 2.300-jährigen Geschichte zurückzugeben und Thessaloniki, neben Istanbul und Belgrad, wieder zum Zentrum des Balkans zu machen.

Persönlich ist Boutaris nach Istanbul gereist, um alte Ressentiments gegen die türkischen Nachbarn zu begraben. Seitdem gibt es eine tägliche Flugverbindung zwischen beiden Städten.

Auch an das „Jerusalem des Balkans“ wollte er wieder anknüpfen, unter anderem mit einem Holcaust-Mahnmal an der Stelle im Zentrum der Stadt, wo 1942 fast 60.000 Juden in Zügen nach Ausschwitz abtransportiert wurden.

Inzwischen seien Jüdische Touristen mit Kippa im Sommer in Thessaloniki kein Exotikum mehr, erzählt mir Erika Pereiha, die Direktorin des jüdischen Museums, selbst Sephardim in der 16. Generation, die sich dadurch endlich wieder heimisch in ihrer Stadt zu fühlen beginnt.

Die offen antideutsche Stimmung in Griechenland seit den Troika-Beschlüssen schert Boutaris wenig. Seine Mutter ist in Hamburg geboren, seine Kinder mit einer deutschen Nanny aufgewachsen, er selbst bewundert die Organisation deutscher Stadtverwaltung. Immer wieder lädt er Experten aus Deutschland ein und war erst vor kurzem in Berlin, um sich über Abfallrecyling zu beraten.

Manchmal nur findet er uns wirklich sehr stur. Natürlich hätten die Deutschen einzigartige Führungsqualitäten, aber man sollte doch auch aufeinander hören können; weniger Technokratie und etwas mehr Menschlichkeit im Blick auf Griechenland, das könne doch nicht nur eine Frage des Klimas sein, sagt er und fragt mich zum Abschluss: „Glaubt ihr wirklich, die vielen Griechen sind in den sechziger Jahren zum Faulenzen nach Deutschland gegangen?“

Arbeitsteilung auf griechisch: Stratos, der Fischer arbeitet nebenher auch als Taxifahrer;  „Anbeißen kann der Fisch alleine“ erklärt er mir…. © Cordelia DvorákArbeitsteilung auf griechisch: Stratos, der Fischer arbeitet nebenher auch als Taxifahrer;
„Anbeißen kann der Fisch alleine“ erklärt er mir….

 

 


6 Lesermeinungen

  1. MF87 sagt:

    Historischer Engpass
    ” Jerusalem des Balkans”,ein Denkmal,…und haGalil stammt aus München!
    Ein bisschen irrwitzig,nun ja ökonomisch bedingte Kulturtechnik ,wie ein Denkmal oder was auch immer.
    Fehler häuften sich bis bisweilen bis zur Unverständlichkeit des historisch-” engagierte” griechische Verhaltens.

    Ich kenne kein einziges Land wo mit ein solcherart Bewusstsein historisch akribische Studien und ein derartige Engagement
    ein Vergangenheit gefördert ist und sich fortsetzt ,kein einziger europäische Nation ,wie Deutschland!( nicht wegen ein Denkmal).

  2. ThorHa sagt:

    Es ist immer erfreulich, gute Nachrichten zu hören.
    Aber am erfreulichsten an dem Beitrag ist die Tatsache, dass die Griechen an ihrem eigentlichen Problem arbeiten. Denn das bestand und besteht nicht in einem deutschen “Spardiktat”, sondern an ihrem eigenen Versagen in und mit der Demokratie.

    Gruss,
    Thorsten Haupts

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  4. mainzelfrau sagt:

    Es ist schön zu lesen, dass sich ...
    …Griechen jetzt selbst helfen, und wenn dann Tsipras die Drachme wiedereinführt, werden sie sich vor Künstlern aus aller Welt nicht mehr retten können. die Biogärtchen expandieren.

  5. Ginneh sagt:

    Offensichtlich hilft nur "Gossenerleben" dem Human aus seinem "Selbstzerstörungsleben".
    Selbst den Griechen, als “Finder” und “Orakler” des “Human-Welt-Bildung-Satzes”,
    des Existenz-Reife-Grund-Satzes, “Welt-Post’s”…Erkenne Dich Selbst…
    Der am meisten unterschätzte Bildung-Satz der Menschheit.

    Nichts ist so ernst zu nehmen wie das nicht geklärte Unwichtige, denn wenn das nicht geklärte Unwichtige
    ernst macht, wird es uns als ernst zu klärendes Wichtiges überraschen, im Gegensatz
    zum erklärt Wichtigen, das uns oft als Unwichtiges überrascht, wenn es ernst wird.
    Wolfgang Hennig

    Gruß
    W.H.

    P.S. Ist Human “Vernunfthandeln” nur über Existenzbedrohung, Krieg und Zerstörung möglich?!
    Eine wohl grausame Wahrheit bis heute, wie das Weltdesaster zeigt.

  6. Ginneh sagt:

    Die Griechen...Bescheidenheit aus Zwang heraus...
    Bleiben sie bescheiden aus Einsicht ihres “Orakel”…
    “Frieden-Existenz-Bildung-Erhaltung-Satz”, der Menschfrieden existenziell soviel bedeutet wie der “Energie-Erhaltung-Satz”, oder
    werden sie “rückfällig”? Geld-Wohlstand-Wachstum-Sucht ohne
    Selbstbegrenzung aus Einsicht heraus, zwanglos, sobald es ihnen besser geht? Nur zwanglose Bescheidenheit, Selbstbegrenzung aus Vernunft, bewahrt vor erneuten Zerstörungsspiralen.
    Ich bin gespannt. Selbsterkenntnis und Einsicht…Grieche, Mensch, Erkenne Dich Selbst…und handele aus Einsicht heraus, nicht aus Zwang.

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