Wir wissen, dass unsere Privatsphäre zerstört wird, spüren aber nichts davon. Eine Meditation über Überwachung und andere Formen der Disziplinierung
Schön ruhig ist es gerade, bei mir zu Hause. Vorhin klingelte es an der Tür, aber ich habe nicht aufgemacht. Eigentlich war ich verabredet, aber ich habe es mir anders überlegt und bin hier geblieben. Was ich hier treibe, nämlich einen Text für 10vor8 schreiben, wüsste niemand, wenn ich ihn nicht selbst veröffentlichen würde.
Jetzt noch ein Käffchen. Richtig gemütlich. Alle Kriterien von Privatheit scheinen für diesen Moment erfüllt: 1) räumliche Privatheit – dieses Zimmer betritt niemand ohne meine Zustimmung, 2) informationelle Privatheit – warum ich hier sitze, wie es mir dabei geht und was mich sonst so beschäftigt, ist ganz meine Sache; und 3) dezisionale Privatheit – ich kann an meinen Abenden tun und lassen, was ich will.
Gestern nutzten wir die dezisionale Privatheit des Feierabends, um uns im Kino „Citizenfour“ anzuschauen, den Film über Edward Snowden, und seit gestern weiß ich noch deutlicher, was ich davor auch schon wusste, dass nämlich der Genuss von Privatheit ein trügerischer Genuss ist und unter anderem davon abhängt, nicht auf eine „watchlist“ zu geraten. Unser Einfluss darauf, im Privaten sicher aufgehoben zu sein, ist weit geringer, als die Konzepte von Autonomie, mit denen wir aufgewachsen sind, es glauben machen lassen. Wenn der Sonntag uns gehört, verdanken wir das bis zu einem gewissen Grade dem Zufall.
„Privacy is liberty“, sagt Snowden an einer Stelle. Man muss sich selbst als freies und politisches Subjekt denken, um die Verletzung zu erkennen. Ich erkenne sie – und doch fühle ich sie nicht. Auch wenn auf irgendwelchen riesigen Servern gerade alles über mich gesammelt werden sollte: Es stört mich nur prinzipiell; tatsächlich fühle ich mich so unbeobachtet und in Ruhe gelassen wie eh und je.
Snowden und Greenwald sagen, dass die zerstörte Privatheit sich für die meisten von uns – diejenigen, die noch auf keinen Listen stehen – im Potentialis der Zukunft auswirkt: In der Gegenwart scheint es egal zu sein, was die Geheimdienste über uns wissen – nicht, weil wir nichts zu verbergen hätten, sondern weil das, was wir zu verbergen haben, die Geheimdienste nicht interessiert. Die Informationen, die den Seitensprung, die Steuerhinterziehung, die Erbkrankheit oder was auch immer verraten, versuchen wir vor der Ehefrau, den Steuerbehörden, dem Arbeitgeber zu verheimlichen, aber für die Geheimdienste scheinen sie uns, die wir doch in der Gegenwart harmlose Bürgerinnen sind, irrelevant. Was müsste sich ändern, dass ich ins Visier derjenigen gerate, die auf all die wahllos gesammelten Informationen zugreifen können und die Machtmittel haben, sie gegen mich zu verwenden?
Laura Poitras erklärt die schiefe Bahn, auf die die US-amerikanischen (wie die britischen) Geheimdienste geraten seien, mit den Irrtümern nach 9/11. Aber die Idee des wahllosen Datensammelns zur späteren Auswertung ist wohl zu unwiderstehlich, als dass sie die Terroranschläge des 11. September zu ihrer Entfaltung gebraucht hätte. Wir leben in einem Panspektrum, wo alle alles überwachen und das Objekt der Überwachung erst nachträglich aus gewissen Fragestellungen heraus bestimmt wird.
Wenn ich an das Wissen der Geheimdienste denke, muss ich immer an Gott denken.
Die Szenarien, mit denen die Geheimdienste das wahllose Sammeln rechtfertigen, erinnern mich an spätmittelalterliche Darstellungen des Jüngsten Gerichts: Irgendwann steigen wir aus unseren Gräbern, und dann werden die Zusammenhänge zwischen unserem privat und nicht-privat geführten Leben offenbar sein. Gott sieht und sammelt alles, was wir an Handlungen und sogar an Gedanken hervorbringen, unser Sündenregister füllt sich, ohne dass wir es merken, eines Tages wird es hervorgezogen und dann wird uns die Rechnung präsentiert. Erst dann wird Gott uns mitteilen, wer gut war und wer böse. Eine Seele im Fegefeuer wird sich kaum auf Privatheit und informationelle Selbstbestimmung berufen.
Allerdings gibt es im Christentum Jesus, der vorsorglich am Kreuz gestorben ist, um der göttlichen Spekulation mit unserer Privatheit etwas entgegen zu setzen. Und im Judentum gibt es Jom Kippur, um symbolisch einmal im Jahr das Sündenkonto auf Null zu bringen. Vielleicht halten es die Religionen mit uns genau umgekehrt wie die Geheimdienste? „Hab ich Unrecht heut getan, sieh es lieber Gott nicht an“: Er soll darauf verzichten, unsere Daten und Metadaten zu sammeln. Aber dafür soll er uns anschauen, als Personen und mit größtmöglichem Wohlwollen: „Kennt auch dich und hat dich lieb.“
Und hier bei mir zu Hause? Gleich werde ich meine dezisionale Privatheit auf die Steuererklärung 2014 richten.
Eigentlich braucht es weder Geheimdienste noch die Informationstechnologien, damit es bei mir zu Hause nicht allzu gemütlich wird. Dafür sorge ich schon selbst. Oder wer ist es, der mich dauernd auch und gerade im Privaten auf Trab hält und mich funktionieren lässt? Was sind das für Instanzen? Meine protestantische Erziehung, die gesellschaftlichen Normen, die Zwänge der Konsumwelt? Ich will ja funktionieren und wäre schön blöd, es nicht zu wollen.
Letztlich muss diese massenhafte, wahllose Sammelei guterzogenen und selbstdisziplinierten Bürgerkindern, wie wir es sind, als eine primitive Geld- und Zeitverschwendung erscheinen. Haben die Mächtigen nicht geschicktere und subtilere Methoden, um uns zu beherrschen?