The past is a foreign country: they do things differently there. (L. P. Hartley)
Es gibt sie, die Parallelwelten. Das habe ich diese Woche wieder einmal ganz deutlich gespürt. Und ich meine damit nicht etwa das sächsische Paralleluniversum, in dem PEGIDA schwimmt, oder die schon länger viel geschmähten “Parallelgesellschaften”, die Migranten in Deutschland allgemeinem Konsens nach nicht bilden dürfen (in Amerika heißt so etwas “Chinatown” und ist ein wichtiges kulinarisches Ausflugsziel, aber das nur am Rande).
Worauf ich hier abhebe, ist vielmehr das Gefühl, das mich am Montag Abend befallen hat, als ich mich auf einen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender verirrte, wo eine “Story im Ersten” namens “Papa, trau Dich!” lief. Dieses Gefühl sagte mir: Ich lebe nicht in derselben Welt wie die Autorin eines Films, der mit dem Satz beginnt “Arne Brixel macht gerade Väterzeit und taucht ein in seltsame Welten”.
Nicht, dass das Dargestellte sich nicht mit den mir bekannten Fakten deckte: die Zahl der Väter, die Elternzeit nehmen, ist nach wie vor gering: Nur gut ein Viertel geht überhaupt für einen Moment aus dem Beruf raus, und nur 7% nehmen mehr als die minimalen zwei Monate (für die sich das scheußliche Wort “Vätermonate” eingebürgert hat – kaum waren die im Prinzip frei aufteilbaren 14 Monate Elterngeld eingeführt, wurde in Deutschland breitenwirksam davon ausgegangen, das bedeute selbstverständlich 12 Monate mütterliche Babypause und eben zwei “Vätermonate”). Diejenigen Väter, die Elternzeit nehmen, sehen sich nicht selten dem Unverständnis ihrer Umwelt ausgesetzt, es gibt nach wie vor Chefs, Firmen und Firmenkulturen, die väterlichem Familienengagement mit offener Feindseligkeit begegnen und Extremfälle, wo Männer nach der Rückkehr und dem Verfall des Kündigungsschutzes aus den Betrieben rausgeekelt oder gar eiskalt vor die Tür gesetzt werden. Verhinderung von väterlichen Elternzeitwünschen durch verknöcherte Chefs mit Familienbild aus den 1950er Jahren – dafür haben Sie doch eine Frau! – ist mir auch in meiner unmittelbaren Umgebung schon zu Ohren gekommen.
Der Film war, das muss ich zugeben, durchaus gut gemeint, sein Titel war inklusive des Ausrufezeichens Programm. Gezeigt wurden lauter ausgeglichene Väter, die sich in Spielgruppen wohl fühlten und ihre Zeit mit den Kindern als wichtig und richtig empfanden, selbst diejenigen, die dafür – freiwillig oder unfreiwillig – berufliche Nachteile in Kauf nehmen mussten. (Am Schönsten dabei eine Gruppe von gepflegten Väterzeit-Bankern, die elegant und lustvoll einen Spielplatz bevölkerten.)
Soweit alles fein. Die Parallelwelt begann mit dem Tonfall. Und erstreckte sich weiter auf die Fragen. Und auf den gesamten Aufbau der Reportage, der zum Ausdruck brachte, wo sie ihre Zuschauer abholen zu müssen vermeinte. Nämlich ungefähr 1956. Maximal 1957.
Da waren die staunenden Nachfragen an die Väter (die dabei, das muss man ihnen lassen, würdevoll Contenance bewahrten), ob das Windelwechseln ihnen denn wirklich nichts ausmache, ob sie denn vielleicht in ihrer Elternzeit auch ein bisschen den Haushalt machen würden? Und ob ihnen auch dieses wirklich nichts ausmache? Wäsche waschen! Einkaufen! Kochen! Putzen! All diese Dinge, denen Männern anscheinend noch nie zuvor auch nur ansatzweise begegnet waren.
Gezeigt wurden Gruppen von Elternzeit-Vätern, die sich zusammengeschlossen hatten, um den “normalen” reinen Müttergruppen zu entkommen, in denen nur vom Stillen und vom Babybrei die Rede ist. Was Männer natürlich langweilt. Was nicht ansatzweise zur Sprache kam: dass viele Mütter das alles spätestens nach dem ersten Stillrausch auch nicht mehr hören können. Zumindest ist das in meiner Parallelwelt so. Oder dass es doch möglicherweise auch Paare gibt, die sich zumindest vor dem ersten Kind den Haushalt auch ein klein wenig teilen (dass es nach Geburt des ersten Kindes häufig zu einer “Retraditionalisierung der Geschlechterrollen” kommt, eben aufgrund der vorherrschenden Verhältnisse – 12 Monate Muttervollzeit, maximal zwei Monate Väterurlaub – ist soziologisch schon oft beschrieben worden). Von “Männerwelten” und “Frauenwelten” war die Rede – erstere zeichnen sich anscheinend durch Technik und Fußball aus, letztere durch Säuglingspflege und Waschmaschinen-Kompetenz. Es fehlte einzig noch die Suggestiv-Frage, ob sich die Männer nicht vielleicht doch auch sexuell entmannt fühlten beim Windeln wechseln. Vielleicht fiel sie auch in einem Moment, in dem ich mich gerade schaudernd abwandte. Wie ich überhaupt den ganzen Film über immer wieder innerlich aufstöhnte, von “unfassbar – das ist nicht das Land, in dem ich lebe!” zu “unfassbar – das ist das Land, in dem ich lebe…”
Was mich wieder zu den Parallelwelten führt. Ja, ich weiß, auch das belegen viele Studien, Statistiken und Anekdoten – jüngst etwa dieser lustige Hinweis auf deutschen Werbemachismo –, Deutschland ist was Geschlechterrollen, weibliche Berufstätigkeit und Artverwandtes betrifft im westlichen Vergleich eher rückständig. Und ja, ich selber lebe in Berlin, noch dazu umgeben von lauter Freiberuflern, Schriftstellerinnen und Journalisten, und klar, das ist etwas Anderes als westdeutsches Bürgertum. Bin ich es also, die in einer seltsamen Parallelwelt lebt? Oder tut es das Publikum, das dieser Film anzusprechen sich bemüht (sofern es existiert)?
Vielleicht leben wir ja alle gefangen und frei zugleich in unserem je eigenen kleinen Soziotop, in unserer kleinen, vielleicht nur um Millimeter verschobenen Parallelwelt. Zwei Fragen blieben mir dann trotzdem noch: Wo kann ich die “seltsamen Frauenwelten” besuchen? Und: was, bitte, ist dann die “Mehrheitsgesellschaft”?