Morgens ist sie immer wieder verschwunden. Die lustige lange Reihe der kleinen Tabs, die sich während der Arbeit am Computer jeden Tag aufs Neue formiert: jetzt nicht, ja, später vielleicht, bitte hinten anstellen. Ein paar Texte können und müssen gelesen werden, andere werden, wenn der Computer ausgestellt wird, schnurstracks weggeklickt. Sie fallen lautlos in das große Loch Internet, für immer vergessen, auch wenn meist das Gegenteil behauptet wird. Die Texte, Videos oder Bilder, die mir wichtig sind, die ich auf weniger arbeitsreiche Tage hinausschiebe, ordne ich möglichst wild und idiosynkratisch: Gemüse, Verführung, Elegante Begleitdogge, Falsche Etikette. Jetzt nicht. Ich bin mir nie sicher, ob ich sie wiederfinde, wenn ich meine, sie zu brauchen, aber ich verspreche mir was davon, die Dinge und Informationen verdreht zu verwalten. Am nächsten Tag das gleiche Spiel.
Manchmal, in einem Anfall von Aufräumwut, erscheint mir das wahnwitzig und bei der Fülle an Informationen langfristig unüberschaubar. Was verspreche ich mir davon, dass die Texte und Fundstücke durcheinander plappern? Weiß ich nächstes Jahr noch, für was die verdammte „Falsche Etikette“ stand? Mal sehen. In diesem Ordner liegen die beindruckenden Clips von Alejandra Costello „a professional Organizer“, nein, “one of the best organized people in the nation” und, hereinspaziert, ein Word-Dokument mit dem Titel „Privat-Bürokratie“, ein Effizienzversprechen ganz anderer Art.
Darin auch, abgetippt, einige Ausschnitte aus Denken/Ordnen einer großartigen Textsammlung des Schriftstellers Georges Perec, die letztes Jahr bei Diaphanes erschienen ist. Unter P) Wie ich ordne, schreibt Perec von der Unmöglichkeit des Ordnens, und gesteht: ”dass ich mich bei provisorischen und unklaren Ordnungen aufhalte, die kaum wirkungsvoller sind als die ursprüngliche Anarchie. Das Ergebnis all dessen führt zu wirklich seltsamen Kategorien: zum Beispiel eine Sammelmappe mit verschiedensten Papieren, auf der steht: »EINZUORDNEN«; oder eine Schublade mit dem Etikett »DRINGEND 1«, die nichts enthält.“
Direkt danach, im gleichen Ordner, Ausschnitte aus Franziska zu Reventlows Von Paul zu Pedro. Amouresken, von ebersbach & simon wiederaufgelegt. Ich habe sie wohl unmittelbar hintereinander gelesen. Auch Franziska zu Reventlow schreibt über Ordnungssysteme, Männerordnungssysteme:„Übrigens behauptet fast jeder Mann, man sei wahllos. Der eine begreift nicht, daß man sich in einen Friseurtypus oder Tenor verlieben kann, und würde Naturburschen verzeihlicher finden. Der andere hat keine Auffassung dafür, daß exotischer Typ und gebrochenes Deutsch zu den unwiderstehlichen Attraktionen gehören (…) Was wollte ich Ihnen denn erzählen? – Daß diese Leute wieder einmal das Wesen aller Dinge endgültig feststellten, alles schön sortierten, in Schachteln taten und Etiketten daraufklebten, nach meinem Gefühl aber immer in die falsche Schachtel und mit falscher Etikette.“
Das ganze, unbedingt empfehlenswerte Büchlein von 1912 ist eine überspitzte, absolut komische Typologie verschiedener Männer und amouröser Angelegenheiten, „wie sie sich nacheinander, nebeneinander und durcheinander abspielten”, die den normierten und gut sortierten Narrativen, die unser Leben bestimmen, mit schwarzem Humor zu entkommen sucht: „Und wie angenehm, daß man als Frau keine Logik zu haben braucht! Denken Sie, wenn ich all meine mühsam erworbene Lebensweisheit in Schachteln ordnen sollte – ach nein, ich werfe lieber alles durcheinander in eine Schublade und hole gelegentlich heraus, was mir – oder anderen Spaß macht.“
Die eigene Inszenierung als freie, selbstbestimmte Femme fatale, steht, auch wenn sie sehr gekonnt ist, in diesem Text genauso unter Klischeeverdacht wie Pedros Impulsivität und Pauls Beliebigkeit. Das Spiel zwischen den Zuschreibungen, die Reventlow – berühmt als „Skandalgräfin“ der Schwabinger Boheme Anfang des 20. Jahrhunderts – provozierte, und ihrer literarischen Antwort darauf ist gezielt komisch. Genauso wie Perecs Plädoyer für das Zufällige und Anarchische deshalb so lakonisch und absurd ist, weil er als Teil von OuLiPo, L’Ouvroir de Littérature Potentielle, ständig mit Regeln, Klassifizierungen und formalen Beschränkungen spielt.
Die Autoren bauen Ordnungen auf und lassen sie wieder einstürzen. Beide inszenieren Klassifizierungen, die sich ganz nebenbei selbst disqualifizieren. Beide Texte sprechen miteinander und reden aneinander vorbei. Sie liegen gemeinsam in einem Ordner, der sie nicht gleich machen will, aber auf Ähnlichkeiten, auf “zufällig herausgeforderte Begegnungen”(Perec) aus ist.
Deswegen: „habe darauf verzichtet so zu tun, als wollte ich sie auf etwas hin ordnen, das mit vollem Recht den Anschein (und die Verführung) eines Artikels gehabt hätte, mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende (Perec S. 142f).“
..."falsche" Etikette...
Also falsch und richtig…bezogen auf “Vernunft-Ziel”-“RICHT”ung…
ist wohl eher “stimmig”(Stimmgabel…Kammerton a) und
weniger stimmig…bis mißstimmig…Vernunftmelodieverlust…
Mißmaß?!:=)
Reif, weniger reif…unreif…geht auch.
Schöpferisch…weniger schöpf…zerstörerisch…geht auch:=)
Ostern gibts noch…bei der Eiersuche…kalt…warm…heiß:=)
Falsch(e) Richtung, bezogen auf ein klar definiertes Ziel, als
Aussage über einen eben mehr oder weniger zerstörungsfreien Weg
zum Ziel ist wohl manchmal notwendig.
Ist “falsch” ausschließlich mit unmöglicher, also Nichterreichbarkeit des
Ziels verknüpft, dann muß derjenige, der die Vokabel “falsch” benutzt aber auch alle, wirklich alle Wege, die zum Ziel führen können, kennen.
Deswegen benutze ich persönlich die Vokabeln falsch und richtig
lieber gar nicht. Gelingt nicht immer, wegen der unkritisch übernommenen “Sprach-Muster-Nutzung”:=)
Schönes Wochenende-Team-Gruß
W.H.
P.S. …nichts wird so heiß gegessen…
....
Zu mancher richtigen Entscheidung kam es nur, weil der Weg zur falschen gerade nicht frei war.
Hans Krailsheimer