Sängerin, Schauspielerin, Künstlerin… Meine Eltern waren nicht davon abzubringen, dass das keine Berufe für eine tschetschenische Frau sind. Außerdem lag Grosny zu der Zeit in Trümmern und es war völlig unklar, wann Museen, Theater und Konzertsäle wieder öffnen würden.
Während der Kriege ist unsere Familie in Tschetschenien geblieben. Der Entschluss meines Vaters stand schon nach den ersten Kriegstagen fest: „Patrioten verlassen ihre Heimat nicht. Wir sollten keine Hilfe von anderen in Anspruch nehmen und auch nicht nach humanitärer Hilfe anstehen.“ Viele Bewohner sind damals nicht weggegangen: aus Stolz, Unsicherheit, oder weil sie in ihrer Naivität dachten, der Krieg würde schnell zu Ende gehen.
Wir hatten weder Strom noch Gas, kein Wasser und kein Telefon. Nachrichten hörten wir aus einem Radioempfänger, der an einem Akkumulator hing. Unsere einzige Verbindung zur Außenwelt. Ich war damals erst neun, aber es machte mich froh zu hören, dass man in anderen Ländern den Krieg verurteilte und Leute auf die Straße gingen, um das Kriegsende zu fordern. Seltsam schien mir allerdings, dass hauptsächlich die europäischen Länder Flüchtlinge aus Tschetschenien aufnahmen, wohingegen die islamischen, die uns doch vom Glauben her nahe sind, sich nicht so klar gegen den Tschetschenien-Krieg äußerten. Mein Vater empfing im Radio verschiedene Sender und hörte sie alle nacheinander, am meisten traute er der „Deutschen Welle“ und Radio Free Europe, bei uns „Svoboda“ genannt.
Mein Vater erzählte mir von mutigen Journalisten wie Anna Politkovskaja, Andrej Babitzki und anderen, die ihr Leben riskierten und die Wahrheit aussprachen. Als im zerstörten Grosny die ersten Zeitungskioske aufmachten, kauften viele die „Novaja Gazeta“ wegen Politkovskajas Reportagen aus dem Nordkaukasus.
Meine Eltern wollten, dass ich an der Universität Journalistik studiere. Ich aber träumte von einer Laufbahn als Sängerin, Schauspielerin, Künstlerin… Meine Eltern waren nicht davon abzubringen, dass das keine Berufe für tschetschenische Frauen sind. Journalistin dagegen sei ein kreativer und edler Beruf. Außerdem lag Grosny zu der Zeit in Trümmern und es war völlig unklar, wann Museen, Theater und Konzertsäle wieder öffnen würden.
Mein Vater starb 2003. Ich war an diesem Tag ohne Vorahnung vom Markt zurückgekehrt, mit einem Kleid für den Schul-Abschlussball. Ich sah die Menschenmenge vor unserem Haus, die zur Beerdigung meines Vaters gekommen war und das offene Tor. Mein Leben, meine Träume, Ziele – alles war von einer Minute auf die andere zerbrochen, zum Abschlussball bin ich nicht gegangen, das Kleid habe ich nie getragen. Mein zukünftiger Beruf war mir völlig egal. Ich habe mich schließlich der Bitte meiner Eltern gefügt.
In traditionellen tschetschenischen Familien ist es üblich, dass Frauen nicht arbeiten, sondern zu Hause bleiben: Kinder aufziehen, Kochen, Aufräumen, Waschen. Deshalb lautet die wörtliche Übersetzung des tschetschenischen Wortes für „Frau“ – „Mutter des Feuers“. Auch in Deutschland wurde die Rolle der Frau lange mit den drei großen „K“s bezeichnet: „Kinder, Küche, Kirche“. Und hier wie da gab es immer Frauen, die trotzdem gearbeitet haben. Schon vor dem Tod meines Vaters war meine Mutter berufstätig. Es gibt Männer, die ihren Frauen nach der Hochzeit nicht mehr erlauben, arbeiten zu gehen. Wenn mein Vater meiner Mutter nicht gestattet hätte zu arbeiten, was wäre aus mir, meinem Bruder, meiner Schwester geworden? Sie trug doch nach dem Tod meines Vaters allein die gesamte finanzielle Verantwortung.
Im ersten Jahr habe ich die Vorlesungen an der Universität ohne Begeisterung besucht. Aber nach einigen Monaten veränderte sich das, als ich Studenten der medizinischen Fakultät traf, die Plakate mit sich trugen, auf denen „Bringt Aslambek zurück!“ stand. Sie riefen mir zu: „Militärs haben unseren Kommilitonen aus der Vorlesung abgeholt. Wir wissen nicht, wo er ist. Wir wollen zum Regierungsgebäude, um seine Entlassung zu fordern. Bitte kommt mit uns. Wenn wir viele sind, werden sie ihn freilassen.“
In diesem Moment erwachte ich aus der Lethargie, die der Tod meines Vaters ausgelöst hatte. Es lohnte sich, vom Tellerrand aufzuschauen. Wir besetzten die Straße neben dem Regierungsgebäude, wir waren viele, und ich schrie mit den anderen: „Gebt uns Aslambek zurück!“ Obwohl ich ihn nicht kannte und nie gesehen hatte. Das wurde dann im Staatsfernsehen ausgestrahlt und Aslambek kam frei. Ich verstand, wie stark gemeinsamer Zusammenhalt und zivilgesellschaftliches Engagement ein Schicksal beeinflussen können.
Damals erfuhr ich von Menschenrechtsorganisationen, die sich gesellschaftlichen Problemen widmeten. Von der Suche nach Entführten bis zur Hilfe für Invaliden. Ich schrieb Artikel für unabhängige Zeitungen in Tschetschenien, Moskau, Großbritannien, Tschechien, Georgien… Menschenrechtsverletzungen im Nachkriegstschetschenien gab es damals zahllose. Ich verstand, dass man das Vergangene restlos aufarbeiten muss.
Es war 2007, als ich zu einer Familie nach „Novye Aldy“ fuhr, deren Klage am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg stattgegeben wurde. Am 5. Februar 2000 gab es dort einen Massaker an Zivilisten, an dem Spezialeinheiten (OMON) aus Sankt Petersburg beteiligt waren. Ungefähr 56 Menschen starben. Eine Frau, die ich interviewte, hatte an dem Tag drei Familienmitglieder verloren. Der zweite, ein älterer Mann – vier. Mit jedem Interview fiel es mir schwerer, die Grausamkeiten zu hören. Ich erinnere mich daran, wie ich nach Hause fuhr, um den Artikel vorzubereiten und an die Redaktion zu schicken. Schluchzend dachte ich darüber nach, ob es sich wirklich lohnte, über solche Themen zu schreiben.
Dann erfuhr ich, dass in Sankt Petersburg die Bewohner jedes Jahr eine Demonstration zur Erinnerung an die Ermordeten in Aldy organisieren: „Nicht in unserem Namen“. Es gibt inzwischen eine Initiative „Vergiss Aldy nicht“. Sie arbeitet für die Versöhnung, den Austausch zwischen Menschen aus Aldy und Sankt Petersburg. Seit zwei Jahren sind die alljährlichen Meetings allerdings untersagt.
Ja, ich habe den Krieg gesehen. Aber eine Sache ist es, wenn Menschenrechte während des Krieges verletzt werden, auch wenn du dieses Grauen am eigenen Leib erfährst. Etwas völlig anderes ist es, wenn die Kriegshandlungen lange zu Ende sind.
Einige unabhängige Verlage, wie die Vertretung von Mediakavkaz, für die ich geschrieben habe, sind inzwischen geschlossen. Auch deswegen habe ich mich bewusst entschieden, den Fokus meiner Arbeit nach und nach von einem eher journalistischen hin zur einem künstlerischen zu verschieben, ohne dass sich meine Themen, wie Krieg, Menschenrechte, Migration, aber auch Einsamkeit, verändert hätten. Ich schreibe und veröffentliche Erzählungen zu tschetschenischen Themen. Außerdem zeichne ich viel und arbeite an Animationsfilmen. Seit zwei Jahren nehme ich an Projekten hiesiger NGOs teil und unterrichte im ganzen Land, gerade auch in den Dörfern, Mädchen in Meisterklassen im Zeichnen oder gebe Seminare in darstellender Kunst. Mir kommt es so vor, als würde ich die gleiche Arbeit wie früher machen, nur vermittle ich jetzt Informationen in einem künstlerischen Sinne. Vielleicht umreißt die Bezeichnung Kulturaktivistin am besten meine momentanen Tätigkeiten. Ohne die Lebensphase im unabhängigen Journalismus aber würde ich in irgendwelchen Wolken schweben.
Übersetzung aus dem Russischen: Elke Bredereck