Zwölf Jahre lang haben kopftuchtragende Frauen das Grundgesetz gegen das Bundesverfassungsgericht verteidigt. Für sie ist das Kopftuch-Urteil des 2. Senats eine Genugtuung, aber keine Befreiung. Befreit haben sie sich schon selbst.

Wer denkt, das Bundesverfassungsgericht habe muslimischen Frauen einen Gefallen getan, der täuscht sich: Die Aufhebung des pauschalen Kopftuchverbots für Lehrkräfte in öffentlichen Schulen ist keine bahnbrechende Neuerung, sondern korrigiert lediglich einen Fehler, den das Gericht selbst vor zwölf Jahren begangen hatte. Von Anfang an hatten gläubige Musliminnen unermüdlich gegen das Gesetz gekämpft. Frauen wie die Religionslehrerin Annett Abdel-Rahman. Sie kommentierte das Urteil vergangene Woche mit den Worten: „Das Bundesverfassungsgericht hat endlich Recht gesprochen. Denn es war das Recht der kopftuchtragenden Lehrerin, auch Unterricht zu erteilen.” Recht, so wie das Grundgesetz es uns verspricht: Die gläubigen Musliminnen wussten es auf ihrer Seite, in all den Jahren, in denen das Bundesverfassungsgericht es ihnen verwehrte.
Erinnern wir uns an die teilweise absurden Folgen, die das Kopftuchverbot nach sich zog. 2008 hatte sich eine muslimische Lehrerin in Nordrhein-Westfalen mit einer Baskenmütze beholfen, um sich die Haare zu bedecken. Das Verwaltungsgericht in Köln entschied damals, auch die Baskenmütze sei nicht erlaubt, da sie als „Surrogat“ für ein Kopftuch angesehen werden müsse. Realsatire pur.
Nicht nur Lehrkräfte in öffentlichen Schulen, auch andere Berufsgruppen wurden in Mitleidenschaft gezogen. Ganz ungeniert lehnten Arbeitgeber/innen in der Privatwirtschaft Bewerberinnen aufgrund ihres Kopftuchs ab. So erhielt auch eine mit mir befreundete Wirtschaftsingenieurin eine Absage. Zwei Tage später bewarb sie sich ein zweites Mal auf die gleiche Stelle, allerdings ohne Foto, und wurde nun prompt zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Dort trug sie eine Perücke – und bekam den Job. Zwei Jahre lang musste sie sich jeden Morgen einen strubbeligen schwarzen Plastikwisch auf den Kopf setzen, um zur Arbeit gehen zu können.
Auf unzähligen Veranstaltungen, im Fernsehen und im Radio haben muslimische Frauen sich für ihre Grundrechte eingesetzt. In den Diskussionen standen ihnen – und oft auch mir – nicht selten Menschen gegenüber, die ernsthaft behaupteten, kopftuchtragende Frauen – also sie selbst – seien unterdrückt und merkten es bloß nicht. Völlig selbstverständlich wurden muslimische Frauen entmündigt, wurde ihnen die Fähigkeit zum eigenen Urteil abgesprochen – unabhängig davon, ob sie studiert haben, wie engagiert und erfolgreich sie sind und ob sie im öffentlichen Leben stehen oder nicht. Was diese muslimischen Frauen, über die pauschal geurteilt wurde, dachten, fühlten, und weshalb sie das Kopftuch trugen, schien nicht von Interesse zu sein.
Auch letzte Woche, als ich bei der BBC über die Aufhebung des Gesetzes diskutierte, wurde ein solcher Hörer aus Deutschland dazu geschaltet. Der Islam sei eine frauenfeindliche Ideologie, erklärte mir der Mann. Deshalb dürften kopftuchtragende Frauen nicht Lehrerinnen werden. Kann er nicht verstehen, dass diese Frauen sich selbstbestimmt und aus eigener Überzeugung für das Kopftuch entschieden haben? Sieht er nicht, dass er es ist, der ihre Selbstbestimmung in Frage stellt und ihre Freiheit beschneiden will?
Wer den Frauen ein Berufsverbot erteilt, befreit sie nicht, sondern tut das Gegenteil: Er drängt sie aus dem öffentlichen Leben ins Private und verwehrt ihnen das Recht, in unserer Mitte zu leben und zu arbeiten. Auch wenn es in einer säkularen Gesellschaft manchen unverständlich sein mag: Für gläubige Musliminnen – und das gilt wohl ebenso für orthodoxe Jüdinnen und für christliche Ordensschwestern – ist das Ablegen der Kopfbedeckung nämlich keine Alternative. Nicht wenige kopftuchtragende Lehrerinnen sahen sich deshalb in der Vergangenheit gezwungen, ihren Beruf gänzlich aufzugeben oder ins Ausland zu ziehen.
Noch wenige Tage vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts schrieb mir eine junge kopftuchtragende Lehramtsstudentin: Sie hatte sich mit anderen muslimischen Freundinnen zusammengeschlossen, um eine Petition gegen das Kopftuchverbot zu verfassen. Sie vertrauten auf das Grundgesetz. Welch stärkeres Symbol für seine Freiheitsversprechen kann es geben, als diese jungen Frauen, die sich für ihr Recht auf Arbeit und für ihre Religionsfreiheit einsetzen und dabei einer Mehrheitsgesellschaft trotzen?
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts befreit, bestärkt und empowered sie, weil sie sich selbst schon vorher befreit, bestärkt und ermächtigt haben. Aber mit der Aufhebung des Verbots ist die Arbeit noch nicht getan. Zwölf Jahre Beschneidung der Religionsfreiheit, Diskriminierung und Entmündigung können nicht mit einem Federstrich rückgängig gemacht werden; sie haben ihre Spuren und Verletzungen hinterlassen und auch Erklärungsbedarf geschaffen. Wie konnten diese zwölf Jahre sein? Wie soll es künftig werden? Es ist nicht zuletzt das Grundgesetz, das uns aufgibt, diese Fragen zu klären, damit wir in einer tatsächlich demokratischen, liberalen Gesellschaft leben können.