Nach der Aufhebung des Verbots ist vor dem Streit. Warum es gut ist, dass wir nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wieder über die Bedeutung des Kopftuchtragens diskutieren (müssen).
In einem lange erwarteten Urteil hat das Bundesverfassungsgericht am 27. Januar 2015 die Dinge gerade gerückt, die in den letzten Jahren in eine Schieflage geraten waren: Dass muslimische Frauen, die im Mathematik-, Geschichts-, Chemie oder Sportunterricht eine Kopfbedeckung tragen, die Neutralität des Landes und den Schulfrieden gefährden, kann zwar nach Auffassung der Verfassungshüter aus Karlsruhe nicht völlig ausgeschlossen werden. Es ist aber doch keineswegs eine konkret greifbare Gefahr. Derart drastische und freiheitsbegrenzende Maßnahmen wie ein allgemeines und striktes Verbot der Kopfbedeckung sind deshalb, so das höchstrichterliche Urteil, nicht zumutbar. Nordrhein-Westfalen, aber auch andere Bundesländer, die ähnliche gesetzliche Vorkehrungen gegen das Kopftuch getroffen haben, werden ihren Umgang mit der ungeliebten Kopfbedeckung nun neu ordnen müssen.
Das wird auch Zeit, denn die Auseinandersetzungen trieben in den letzten zwei Jahrzehnten sonderbare Blüten. Zum Beispiel diese: Eine Baskenmütze ist auch ein Kopftuch … jedenfalls dann, wenn sie von einer muslimischen Lehrerin oder Sozialpädagogin im Schuldienst getragen wird. Zu diesem bemerkenswerten Urteil war im Juni 2007 das Düsseldorfer Arbeitsgericht gelangt (AG Düsseldorf 12 Ca 175/07). Baskenmützenliebhaberinnen aller Konfessionen rieben sich verwirrt die Augen. Kopftuchträgerinnen auch. Eine muslimische Baskenmützenträgerin sah sich veranlasst, die Sache im Jahr 2008 vor dem Verwaltungsgericht Köln noch einmal zur Sprache zu bringen: Die Baskenmütze, so erklärte sie, sei doch „eindeutig dem christlich-abendländischen Kulturkreis zuzurechnen“ (VG Köln 3 K 2630/07). Aber die Kölner Richter schlossen sich ihren Düsseldorfer Kollegen an. Auch sie entschieden: Die Baskenmütze auf dem Kopf einer muslimischen Frau im Schuldienst ist ein religiöses Zeichen. So wie das Kopftuch die von ihm „symbolisierten Glaubensinhalte als vorbildhaft und befolgungswürdig“ ausweise, so habe im gegebenen Kontext auch das dauerhafte Tragen einer Baskenmütze religiös „appellativen Charakter“ (VG Köln 3 K 2630/07).
Man hätte über diese Abwägungen deutscher Richter schmunzeln und die Sache in der Rubrik ‚Kuriosa’ ad acta legen können. Doch die Entscheidungen aus Düsseldorf und Köln hatten Konsequenzen: Denn Nordrhein-Westfalen hatte 2006 im Schulgesetz festgelegt, dass Lehrkräfte „in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben [dürfen], die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den […] Schulfrieden zu gefährden“. Von diesem Verbot ausgenommen wurde im Nachsatz „die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“ (§ 57 Abs. 4). Für Kopftücher aber – und mit den genannten Entscheidungen auch für Baskenmützen – war die Sache klar: Für sie galt das Verbot.
All die Jahre stand man perplex vor dieser dreisten Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes, die sich nicht nur Nordrhein-Westfalen, sondern auch Baden-Württemberg, Bayern, das Saarland und Hessen herausnahmen. Nun hat das Bundesverfassungsgericht Recht gesprochen: In seiner jüngsten Entscheidung in Sachen Religion von 27. Januar 2015 macht es unmissverständlich klar, dass diese Ausnahmeregelung mit dem Grundgesetz „unvereinbar und nichtig“ und im Übrigen ein generelles Verbot religiöser Bekundungen, wie es die ‚Kopftuchgesetze‘ in den verschiedenen Bundesländern vorsehen, „unverhältnismäßig“ ist, wenn die Konfliktlage, der damit begegnet werden soll, lediglich „abstrakt“ und nicht „hinreichend konkret“ ist (1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10).
Auf diese Entscheidung des Ersten Karlsruher Senats haben nicht nur muslimische Lehramtsanwärterinnen lange gewartet. Und man darf annehmen, dass sie Bewegung bringen wird in die verfahrene Lage. Neu ist in jedem Fall: Die Last der Rechtfertigung liegt jetzt nicht mehr bei den muslimischen Frauen. Sie liegt fortan beim Schulträger, also unter anderem bei Städten, Gemeinden, Landkreisen. Nur wenn diese plausibel darlegen können, dass Lehrerinnen, die eine Kopfbedeckung tragen, den Schulfrieden konkret gefährden, kann das Verbot aufrecht erhalten werden. Zugleich unternehmen (dieselben) öffentliche(n) Institutionen seit einigen Jahren erhebliche Anstrengungen, die islamische Theologie als Lehramtsstudienfach an deutschen Universitäten zu etablieren. Manch einer der Verantwortlichen in den Kultusministerien der Länder wird den höchstrichterlichen Urteilsspruch deshalb wohl erleichtert zur Kenntnis genommen haben – dürfte man sich dort doch bereits fragen, wie man in einigen Jahren mit den erfolgreichen Absolventinnen des neuen Studiengangs umgehen soll, unter ihnen auch eine stattliche Zahl Kopftuchträgerinnen. Sollte man von ihnen verlangen müssen, die Kopfbedeckung, die sie im Religionsunterricht tragen dürften, im anschließenden Mathematik-, Geschichts-, Deutsch- oder Musikunterricht wieder abzulegen? Die jüngste Entscheidung aus Karlsruhe könnte die politisch Verantwortlichen davor bewahren, sich in einem argumentativen Drahtseilakt zu verheddern.
Dass ein solcher Drahtseilakt überhaupt drohte, daran ist das höchste deutsche Gericht selbst nicht ganz unschuldig. Denn vor zwölf Jahren haben die Karlsruher Verfassungshüter schon einmal in der Causa Kopftuch entschieden: 2003 fällte der Zweite Senat in einem Streitfall aus Baden-Württemberg ein eigentümlich janusköpfiges Urteil. Darin stellten die Richter einerseits klar, dass das Verbot, eine Kopfbedeckung zu tragen, eine erhebliche Grundrechtseinschränkung darstellt; andererseits aber wollten sie ein Verbot nicht grundsätzlich ausschließen, verlangten jedoch, dass es auf einer gesetzlichen Grundlage stehe und also dem erklärten Willen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers entspreche. Ein solches Gesetz aber gab es damals nicht. Die Klägerin bekam also Recht. Aber davon hatte sie nichts. Denn der Stuttgarter Landtag reagierte sofort: 2004 trat in Baden-Württemberg das deutschlandweit erste ‚Kopftuchgesetz‘ in Kraft – das natürlich nicht so hieß, aber doch genau das war. Andere Länder folgten. Muslimische Lehramtsanwärterinnen, die eine Kopfbedeckung tragen, waren fortan in der Klemme.
Nun war es nicht so, dass die Verantwortlichen in Baden-Württemberg erst durch die Karlsruher Richter auf die Idee gebracht werden mussten, eine gesetzliche Regelung in Betracht zu ziehen. Diese Möglichkeit war im Stuttgarter Landtag 1998 eingehend diskutiert, doch von der großen Mehrheit abgelehnt worden. Einzig die Republikaner hatten lautstark ein ‚Kopftuchgesetz‘ gefordert. Alle anderen Parteien hatten ein generelles Verbot verhindern und sich die Möglichkeit offen halten wollen, im Einzelfall zu prüfen, was – wie es der damalige Landesvater Erwin Teufel ausdrückte – eine Lehrerin im Kopf und nicht was sie auf dem Kopf hat. Doch das erste ‚Kopftuchurteil‘ aus Karlsruhe stellte die Weichen anders: Alle Bundesländer, in denen es muslimische Lehramtsanwärterinnen gab, wappneten sich nunmehr gesetzlich gegen reale und potentielle Kopftuchträgerinnen in den Schulen.
Doch Kreativität kennt bekanntlich keine Grenzen, das gilt auch für religiöse Kreativität. Verlangt der Koran, dass es ein Tuch ist, das Haare, Ohren und Hals bedeckt? Das Angebot der Bekleidungsindustrie bot Alternativen. Warum keine Baskenmütze, kombiniert mit einem hoch geschlossenen Rollkragenpullover? Eine Lösung schien gefunden. Doch aufmerksame Schulleiter witterten Gefahr. Und so landete nach dem Kopftuch auch die Baskenmütze vor Gericht.
Dass Gerichte im säkularisierten Verfassungsstaat im Konfliktfall auch über den religiösen Sinngehalt von Kopfbedeckungen entscheiden müssen, erscheint skurril, liegt aber letztlich in der Konsequenz der Hochschätzung der Grundrechte. Die jüngste Entscheidung aus Karlsruhe wird diese Skurrilität deshalb nicht grundsätzlich abstellen können. Doch könnte sie etwas Druck aus dem Prozess der Überreglementierung nehmen. Zwar entbindet sie die Verantwortlichen in den Ländern nicht von der Notwendigkeit, die Verfassungstreue von Lehrkräften zu prüfen, die sich auch an ihrem äußeren Erscheinungsbild kundtun kann. Aber sie stärkt das Grundrecht auf Religionsfreiheit, indem sie klarstellt, dass dieses eben nicht aufgrund einer bloß abstrakten Gefahrenlage generell eingeschränkt werden darf. Dadurch spielt sie den Ball in das Feld zurück, aus dem er kommt: in Politik, Religion und Gesellschaft. Der Konflikt ist damit nicht beigelegt. Aber er ist wieder da, wo er hingehört.
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