Millionen von Menschen aus aller Welt haben in den vergangenen 70 Jahren das ehemalige Konzentrationslager Dachau besucht. Die Bewohner der Kleinstadt hingegen mieden lange Zeit die Gedenkstätte vor der Haustür. Eine Dachauerin zieht Schlüsse.

Am 29. April 1945 befreiten Soldaten der US-Armee das Hauptlager des Konzentrationslagers Dachau. Zwei Wochen zuvor hatte Heinrich Himmler die „Totalevakuierung“ angeordnet. Auch in Dachau hatten die SS-Wachmannschaften begonnen, das Lager zu räumen und die Häftlinge auf Todesmärsche zu schicken. Wer in der Bevölkerung bis dahin noch nicht gewusst hatte, was im Osten der Stadt vor sich ging, sah es jetzt: Aus den Toren des Lagers kamen ausgemergelte Gestalten, die gezwungen wurden, zu marschieren. Viele von ihnen in den Tod, unfassbar sinnlos, wenige Tage vor Kriegsende.
Dachau ist meine Heimatstadt. An dem Bauernhof meiner Familie führte ihr Weg nicht vorbei. Aber meine Großmutter sah sie. „Arme Deife“, sagte sie über die halbtoten Häftlinge. Arme Teufel. Sie gab ihnen Milch. Auch ihr Mann, mein Großvater, war damals ein armer Teufel, an einem anderen Ort. Er kam vier Jahre später zurück, von der Arbeit in einem Kohlebergwerk in Polen, einem Kriegsgefangenenlager, wo er als ehemaliger Soldat der Wehrmacht inhaftiert war. Auch er ging zu Fuß, angewiesen auf die Menschen auf seinem Weg, um zu überleben. Als er endlich zu Hause ankam und in die Stube trat, erkannte ihn seine Frau nicht mehr.
Vor 70 Jahren hat der Krieg millionenfach Menschen entwurzelt und vertrieben. Flüchtlingsströme zogen über den Kontinent. Sie waren auf der Suche nach ihrer alten oder einer neuen Heimat. Europa war in Bewegung. Man kann und muss es sogar vergleichen: Mein Großvater teilte auf seinem Rückweg das gleiche Schicksal der Menschen aus Syrien und Afrika, die heute vor dem Wahnsinn der Kriege in ihrer Heimat auf der Flucht sind. Dass er Soldat war, hatte er sich nicht ausgesucht. Zum Desertieren, um das ihn meine Großmutter bat, hatte er keinen Mut gehabt.
Erst vor einiger Zeit habe ich begriffen, dass mein Vater fünf Jahre alt war, als er seinen Vater das erste Mal sah. Aber so ist das mit der Erinnerung. Je traumatischer das Erlebte, umso schwerer für die Betroffenen, darüber Auskunft zu geben: Teil einer Über- und Weiterlebensstrategie.
Ich verbrachte die Kindheit mit meinem Großvater auf dem Bauernhof. Umgangsformen waren ihm wichtig. Sie gaben ihm seinen Stolz zurück. Ich besuchte die örtliche Realschule. Meine Lehrer mochte ich. Besonders den Geschichtslehrer. Wir waren selten einer Meinung, respektierten uns aber. Manchmal diskutierten wir eine ganze Schulstunde: über Gleichberechtigung oder die CSU. Doch als wir in der 10. Klasse kurz vor den Abschlussprüfungen die Klarsichtfolien zum Nationalsozialismus abschrieben, machte er keinen Unterschied. Es machte keinen Unterschied. Wie in jeder Stunde warf der Overheadprojektor die Folien an die Wand: Weimarer Republik, Machtergreifung, Aufstieg und Fall des Regimes Adolf Hitlers, aufgeschrieben mit immer gleichen Stiftfarben: rot, grün, schwarz, nur manchmal blau. Wir übertrugen sie sorgfältig in unsere Hefte, bis der Unterricht endete.
Das ehemalige Konzentrationslager war indessen nur fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad entfernt. Wir haben es nie besucht. Keiner unserer Lehrer und Lehrerinnen hat es je als Bildungsauftrag angesehen, mit uns in die Gedenkstätte zu gehen. Vielleicht lag es zu nah für den ganztägigen Schulausflug, den der Lehrplan vorsah.
Dabei sahen wir täglich die Besucher am Bahnhof stehen, die sich in den Bus drängten. Eine Million Menschen pro Jahr. Sie kamen aus der ganzen Welt und wollten wissen, wie der Ort aussah, an dem das Unheil seinen Lauf genommen hatte. Aber in der Stadt wollte man nicht auf diesen Teil der Vergangenheit reduziert werden. „Was konnten die Stadt und ihre Menschen dafür, dass das erste Konzentrationslager der Nationalsozialisten hier errichtet wurde?“, fragten sie. Auf Linie war, wer schwieg. Das war 1990. So ist die Erinnerung auch, wenn sie einem nahe rückt: eigenwillig und egoistisch.
Meine Heimatstadt verhielt sich wie die Verwandten in Harald Welzers Buch „Opa ist kein Nazi“. Sie sitzen mit dem Großvater in einer Runde. Er berichtet von dem, was er im Krieg verbrochen hat. Als man die Familienmitglieder danach befragt, was am Tisch Gespräch war, vermag sich niemand mehr an die Schilderung seiner Verbrechen erinnern. In ihrer Erinnerung hat er es nie erzählt.
Vor einiger Zeit bat ich einen Flüchtling aus Somalia, sein Leben in einem Brief zu schildern. Er schrieb zwei Seiten, mehr ging nicht, sagte er: über seine Zeit als Kindersoldat, wie seine Kameraden nach einer Autopanne in der Sahara verdurstet und bei der Überfahrt im Mittelmeer ertrunken sind. Es sind nur zwei Seiten, aber vielleicht weiß ich über seine Flucht jetzt mehr als über die Kriegsjahre meines Großvaters.
Was kann Erinnerung, was kann sie nicht? Erinnerung tut weh. Erinnerung braucht Zeit. Wie man sich erinnert, muss jedem selbst überlassen bleiben, denn verordnen kann man sie nicht. Aber es muss immer Raum für sie geben. Erinnerung kann Dinge verhindern. Sie trennt Menschen und kann Menschen auch zusammenführen, über Grenzen, Religionen und Sprachen hinweg.
Sich erinnern ist schwer. In Dachau hat es Generationen gedauert, bis die Menschen dazu in der Lage waren. Ich war neunzehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal die Gedenkstätte besuchte. Allein. Das musste der richtige Moment für mich und meine Erinnerung gewesen sein.
Heute, 2015, regiert in Dachau nicht mehr das Schweigen. Jetzt reden die Menschen über das Lager. Im November 2014 wurde das eiserne Tor gestohlen, in das der Satz „Arbeit macht frei“ geschmiedet war. Ein Kunstschlosser aus dem Landkreis hat eine Kopie angefertigt. Aber wichtiger war: Die Dachauer tauschten sich darüber aus, was zu tun sei, wogen das Für und Wider ab: Ein neues Tor? Den Eingang einfach leer lassen? Mit der Arbeit eines Künstlers auf den Diebstahl hinweisen? Das Gespräch ist, was zählt.
Neben dem Bauernhof meiner Familie steht die alte Dorfschule. Dort sind seit einiger Zeit Flüchtlinge aus Syrien untergebracht. Wahrscheinlich waren sie in der Hölle des Bürgerkriegs nur Opfer, nicht Täter. Eine dreiköpfige Familie aus Damaskus hat es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Nachmittag gegen halb fünf einen Spaziergang zu machen. Auf der Straße einmal zum Wald und zurück. Als ich an Ostern zu Besuch war, kamen sie zu uns in den Stall, die Tiere ansehen. Mit der Verständigung ist es noch schwer. Das Mädchen begann, die kleinen Kälber zu streicheln und vergaß einen Moment die Welt um sich herum, wie Kinder es eben tun.
Wieder ein Ost/West-Thema...
ich bin im Osten aufgewachsen, liebe Autorin, und wir haben selbstverständlich allesamt ein KZ besucht, spätestens in der achten Klasse, da wurde keiner gefragt! Ich kann mich noch gut an einen ganz grausamen Film erinnern, der damals in Sachsenhausen gezeigt wurde (heute wird er dort nicht mehr gezeigt). Aber ich glaube einfach nicht daran, dass ausgerechnet dieser Zwangsbesuch die Menschen “besser” gemacht haben soll. Entweder, man braucht kein KZ-Besuch, um mit 14 Jahren von alleine zu wissen, dass man Menschen nicht quälen darf. Oder man ist eben ein Mensch, den fremdes Leid nicht bekümmert. Ich möchte lieber nicht darüber nachdenken, wer sich wohl am Ende leichter damit tut, Prügelböcke und ähnliches im Original zu besichtigen.
Auch kann man sich nicht nach zwei Generationen auf einmal “erinnern”. Wir waren nicht dabei, wir wissen nur das, was uns berichtet wurde und müssen das kritisch beurteilen. Das mit dem Berichten ist wiederum etwas freiwilliges. Nie im Leben hätte ich meine Großeltern ausgefragt. Woher hätte ich, die es nicht mehr betraf, denn auch das Recht nehmen sollen, von ihnen Rechenschaft zu fordern? Hat mir irgendwer ein Mandat dafür erteilt? Und was hätte dabei herauskommen sollen, kann man denn die “Wahrheit” überhaupt von jemandem erzwingen? In der Retrospektive stelle ich aber fest, dass mir meine Großeltern doch eine ganze Menge erzählt haben; freiwillig. Möglicherweise hat gerade das dazu beigetragen, dass ich schon vor dem Pflichtbesuch im KZ wusste: Das war das blanke Grauen.
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Sehr geehrte Frau Storz-Ganzlin,
von Freunden und Bekannten aus dem Westen und besonders im ehemaligen Osten Deutschlands habe ich oft erfahren, dass der Besuch in einer Gedenkstätte nur ein Pflichtbesuch war. Ich würde sagen, egal wo, die Pflicht zur Erinnerung führt zu nichts; sie konfrontiert, aber das ist etwas anderes.
Das Bild „Angelus Novus“ von Paul Klee und die Geschichte, die es mit Walter Benjamin verknüpft, beschäftigen mich noch immer hinsichtlich darauf, wie die Erinnerung vielleicht Vergangenheit und Zukunft zusammenführen kann.
Was ist von meinen Großeltern erfahren habe, haben sie wie bei Ihnen freiwillig erzählt. Sie haben mit mir als Enkel an Erinnerung geteilt, was sie teilen wollten und ausgelassen, was sie auslassen wollten.
Das Böse ist immer und überall? Eben nicht.
Die Gedenkkultur zu den Nazi-Verbrechen bietet reiches Anschauungsmaterial, die Verknüpfung von Topographie, Erinnerung und Moral zu studieren.
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Die Bewohner Dachaus wollen mit ihrem KZ nicht identifiziert werden, aber der Rest des Landes und der Welt freut sich über ein Depot, wo man die Schuld bequem und risikolos endlagern kann. Nach meinem Eindruck gab es in ganz Deutschland keine Stadt, wo die Honoratioren nicht ehrlich überzeugt gewesen wären, sie wäre deutlich weniger naziverseucht gewesen als der Rest des Landes.
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Moral und Raum sind anthropologisch verknüpft, was man grad in Oberbayern ja auch an den zahllosen Wallfahrtsorten ablesen kann.
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Sehr geehrter Herr Meier,
das ist ein interessanter Aspekt: Dass man versucht hat, Schuld dort abzuladen. Aber vielleicht nicht endlagern, weil der Besuch eines solchen Ortes schon etwas mit dem Betrachter macht.
Es wäre interessant, weiter darüber nachzudenken, was Erinnerung, Raum und Moral grade für Oberbayern bedeuten.
Dachau ist überall 27. April 2015...das stimmt.
Weltweit Menschen in und auf dem Weg in Konzentrationslager…
weil wir keine “Konzentration”(Arbeits-?/Ruhe?-Zeit) auf/für
die “Lage”(weltweit humanes Gleichgewicht)
“R”(atio human empathische Bildungssysteme) verwenden.
Wir nehmen die “Dachau’s” der Welt nur im vorbeirasen wahr,
Weltweite Mahnmale, Opfer-Gedenktage…alte, neue…
täglich weltweit in allen Nachrichten, Medien zu lesen.
Wir nehmen die “Ganzheit” des Ausmaßes unserer Maßlosigkeit,
unser jeder (Hitler-Human-Herz-)Maßlosigkeit, in unser Selbst,
selbst in unserem Selber, nicht wahr, begreifen nicht wirklich,
unsere Wirklichkeit nachhal(l)tend nachhal(l)tig tief wirkend
und rasen so auf ein “Erde-Mensch-Mahnmal” zu.
Kollaps(e), Infarkt(e), weil die “Lebengeschwindigkeit” viel zu
hoch für die Not wendende Bildungsgeschwindigkeit der
“Ganzheit-Wahrnehmung” unserer “Leben-Wahrheiten”.
Wir verdrängen so weiterhin mittels “Sucht-Verharmlosung”…
mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln unserer
Intelligenz(-Führer?).
Arbeit-Geld-Erfolg-Ruhm-Anerkennung-…-Raserei…
zu unserem Wohle unseres nie enden wollenden “Volkswohlstandes”…
denn wir machen ja alle “nur” (ratlos?, Human ratiolos human?)
unsere/r?n?…beides? (Führer-)Wohlstand-Job, führen Arbeitgeber
“Anweisungen/(Befehle?)”,
tief verinnerlichte “Infrastruktur-Erfolgserwartungsbefehle?” aus…
am Ende steht aber das “Kollektiv-Schulderleben” der Menschheit
für ihre eigenen “Vernichtungswi?/e?llen”…
ein Erde-Dachau…Dachau-Erde.
Wir unterschätzen das, was wir haben und überschätzen das, was wir sind.
Marie von Ebner-Eschenbach
…haben die “R”(atioweg-)Lösung!…gehen die “(T-)R(ex-Weg)”-Lösung!
Die Raubtier-Könige der Erde?!
MfG
W.H.
P.S. Erinnerung…innerer “R”atiofindungsgang?!…
Selbstfindungsgang?!…”H”uman-Findungsgang?!
Selbsterkenntnis und Einsicht…
eine “INNERE”, die Leben-Nöte wende Lebenwegprozedurtour…
die zum humanen handeln und Handel führt.
Humane Ratio macht frei, erlöst von Mahnmal-Geschichte(en)!
Na ja
… ich war mit acht oder neun mal in Dachau in der Gedenkstätte, mit meinen Eltern. Auf dem Parkplatz stand neben unserem ein Auto, hinter dessen Windschutzscheibe die DKP-Zeitung lag. Wie ein Mitgliedsausweis oder ein Parkschein. Das weiß ich noch, das ist meinem großen Bruder aufgefallen. Und auf einer der Holzpritschen stand, mit Bleistift hingekritzelt, “Es war für unser Volk.” Darüber hat sich mein Vater geärgert, das weiß ich auch noch. Aber sonst erinnere ich mich nur noch daran. An die Bilder mit ausgemergelten Elendsgestalten, die es bestimmt gegeben haben muss, kann ich mich nicht erinnern.
Das “Krematorium”, über das die Erwachsenen so sprachen, als wäre es etwas ganz Schlimmes, war – nicht schlimm anzusehen. Das ganze Lager war irgendwie nicht so schlimm anzusehen. Nicht dreissig Jahre später, nicht mit ordentlichen Kiesflächen und Fundamentmauern, die die Lagerbaracken bezeichneten.
Aber so war es ja doch irgendwie auch ein perfektes Symbol. Weil eigentlich nichts Schlimmes zu sehen war und sich trotzdem alle Erwachsenen merkwürdig benahmen.
Ich denke oft, dass es gar nicht wegen der Todeskommandos in weißrussischen Dörfern und der Mordfabriken in Ostpolen war, dass sich das ganze Land so eingeigelt hat, geistig, den dort waren ja wirklich nur relativ wenige dabei und ich weiß auch nicht, ob die tatsächlich viel erzählt haben zu Hause. Aber die Schilder in den Parks und an den Freibädern , die schon sieben Jahr früher da hingen, die hat ja jeder gesehen und dass der Rechtsanwalt Rosenberg dann keiner mehr war irgendwann und dann wurde irgendwann die Couch von den Rosenbergs auf einmal von der Gemeinde versteigert. Und irgendwann kam eine “Polin” ab ’42 oder ’43 auf dem Bauernhof als Arbeitskraft, die durfte aber nicht mit der Bauersfamilie am Tisch essen, das hat der Ortsparteileiter verboten, und man war froh, dass die da war, aber als sie schwanger wurde von einem Franzosen, der auch dort arbeitete, da kam sie weg. Und dann war irgendwann der Krieg vorbei und alles anders.
Und es hat 60 Jahre oder so gedauert bis die Nachkommen so weit entfernt waren dass das alles nicht mehr viel mit ihnen selbst zu tun hatte und sie die ganze Feigheit und den Opportunismus klar benennen konnten.
Aber – wenn damals wirklich fast alle mitgemacht haben, hätten wir, wenn wir auch zu diesen allen gehört hätten, uns anders verhalten? Vermutlich genau so viele von uns wie damals von denen, unter gleichen Umständen.
Das ist das Traurige.
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Krematorium
Dachau hatte zwar keine Verbrennungsöfen und war kein Vernichtungsverlager, aber die Vorstufe dazu, denn es lieferte denselben zu. Dass 1934 (Der “Jubiläuemstag” – 2. Mai 1934 – steht kurz bevor) dort ja “nur” die Sozialisten, Gewerkschafter und Kommunisten, die Reichsfeinde, “konzentriert” und “gebessert” wurden, schien damals nicht nur in Bayern geglaubt worden zu sein. Kein Wunder, denn wer hatte die Presse in der Hand? Zu behaupten, “man hätte nichts gewusst”, ist aber nachweislich eine Lebenslüge. Darüber hinaus war “Dachau” Teil des NS-Vernichtungsprogramms. Ob der FAZ-Blog-Beitrag da nicht übers Ziel hinausschiesst? Andererseits war der Holocaust 1934 noch nicht geplant. Aber man wird den Eindruck nicht los, dass man in den Geruch des Revisionismus gerät Man darf auf die weiteren Anmerkungen gespannt sein.