Vor sieben Monaten verschwanden 43 Studenten in Ayotzinapa, und jeden Tag geht das Morden und Massakrieren in Mexiko weiter. Jetzt reisen Angehörige quer durch Europa und die USA und kämpfen gegen das Vergessen. In Berlin haben wir sie getroffen.

Ausgerechnet wieder dieser so angestrengt penibel gezogene Scheitel von EPN, Enrique Peña Nieto, dem Präsidenten Mexikos, über den ich hier schon einmal nachdenken musste! Jetzt ist tatsächlich seine Frisur das Logo zu seiner Abwahl geworden, für die die Mexikaner stimmen können, wenn sie demnächst in 31 Bundesstaaten wählen gehen. Die Kampagne Que se vaya! – Er soll verschwinden! – gehört zu einer landesweiten Initiative von Abgeordneten der Opposition, von Künstlern und Intellektuellen, die den Präsidenten nach zwei Jahren Amtszeit loswerden wollen.
Das Land ist gespalten wie selten zuvor, niemand vertraut mehr auf irgendeine etablierte politische Institution oder Partei. In den Dörfern werden Wahlplakate von der Bevölkerung inzwischen öffentlich verbrannt und die um Stimmen buhlenden Kandidaten davongejagt, bevor sie überhaupt zum Mikrofon greifen.
Verschiedene Bürgerinitiativen und politische Bewegungen konnten sich in den letzten Monaten nach den Geschehnissen in Ayotzinapa konsolidieren und stellen jetzt alternative Regierungsmodelle vor, die Wichtigste um den engagierten Bischof José Raul Vera López, der über eine neue Verfassung abstimmen lassen will. Auch die Zapatisten um Comandante Galeano (ehemals Marcos) melden sich nach zehn Jahren Schweigen gerade zurück, mit einem Aufruf zu einem internationalen Denk-Retreat, das Anfang Mai im Urwald in Chiapas stattfinden wird.
Und während der Präsident mit seiner ganzen Familie und einem Gefolge von über zweihundert Leuten erst vor kurzem zum Staatsbesuch nach London reiste, als wäre es ein Ausflug nach Disneyland, und seine Frau in frivoler Unbedarftheit in den teuersten europäischen Designerkleidern für HOLA und GALA posiert, begeben sich jetzt Angehörige der verschwundenen Studenten auf einen Marathon durch die Länder des Westens. Hier kämpfen sie gegen das Vergessen an. Ihre “Euro-Caravana” reist, ausschließlich mit privaten Spenden finanziert, gerade durch Europa. Am 23. April war sie in Berlin.
“Wie sollen wir einer Regierung noch irgendetwas glauben, die uns als angeblichen Beweis für den Tod unserer verschwundenen Söhne Knochen präsentiert, die sich nach Untersuchungen von internationalen Forensikern als Hühner- und Rinderknochen herausstellen?”, fragt Eleocario Ortega, Vater von Mauricio, einem der 43 Verschwundenen.
Eigentlich sollte er jetzt wie jedes Jahr Bananen und Kaffee ernten, in seinem Dorf in Guerrero. Stattdessen steht er nun mit einem Megaphon vor der mexikanischen Botschaft in Berlin, und mit ihm Roman Hernández, Anwalt des Menschenrechtszentrum Tlachinollan, und Omar García, einer der wenigen überlebenden Studenten jener Horror-Nacht im September 2014.
Nach der “offiziellen Version” der Regierung wurden die 43 von lokalen Drogenleuten entführt, auf einer Müllhalde verbrannt und dann in Plastiksäcken in den Fluss geworfen. Als wäre das nicht schon menschenverachtend genug, stellt sich diese Version nun als schlecht kaschierte Lüge heraus, die eine Wahrheit verbirgt, die noch viel schlimmer sein muss.
Dennoch haben die mexikanischen Behörden den Fall inzwischen für abgeschlossen erklärt. Der mit dem Fall betraute Staatsanwalt ist abgesetzt, und Peña Nieto lässt sich gerade lieber mit der Queen in ihrer goldenen Karosse durch London kutschieren.
Am Rande des zweitägigen Berlin-Besuchs der “Euro-Caravana” spreche ich lange mit Omar García (27), der mit seiner Gelassenheit, klaren Sprache und Unbestechlichkeit zu einem Sprachrohr der Studenten aus Ayotzinapa geworden ist. Dass er Lehrer werden sollte, war nicht wirklich eine persönliche Entscheidung, sagt er mir. Dort, wo er herkommt, hat das Wort Zukunft nur wenige Schattierungen.
Im Folgenden eine Zusammenfassung unseres Gesprächs, bei der jede meiner Fragen eine behutsame und schwierige Gratwanderung darstellte, denn immer wieder brachen die Wut und der Schmerz aus ihm heraus und machten das Sprechen fast unmöglich.
“Wir sind hier nicht als Touristen. Eure Parks, Eure Sehenswürdigkeiten, wir können sie nicht genießen.
Wir sind auch nicht hier, um um Geld zu betteln.
Wir sind keine politische Vereinigung. Wir existieren nur, weil 43 von uns seit sieben Monaten verschwunden sind und mit ihnen mehr als 20.000 weitere Menschen in Mexiko.
Und weil sich die Regierung in unserem Land darum nicht ernsthaft kümmert, müssen wir jetzt durch die ganze Welt reisen und sehen, ob mit internationalem Druck irgendjemand in Mexiko auf diesen absoluten Notzustand reagieren wird.
Wir waren auf all das, was passiert ist, nicht vorbereitet. Seit der Nacht des 26. September haben wir alles improvisieren müssen. Niemand von uns wusste, was zu tun ist.
Wir sind keine Intellektuellen, wir reden, wie es uns gerade aus dem Mund kommt, aber damit sind wir immerhin heute bis hierher gekommen.
Die mexikanischen Medien haben uns zu Opfern gemacht. Nur so passen wir in die politische Telenovela. Aber wir wollen nicht als Märtyrer in die mexikanischen Geschichtsbücher eingehen. Wir wollen kein Mitleid! Wir wollen als eine Bewegung erinnert werden, die seit dem 26. September 2014 gemeinsam mit 43 verschwundenen Studenten angefangen hat, in Mexiko etwas zu verändern.
Auch wir sind gestorben in dieser Nacht im September. Wir haben nichts mehr zu verlieren. Als wir uns auf eigene Faust auf die Suche gemacht haben nach möglichen Massengräbern in den Hügeln und Wäldern um Iguala, wurden wir von bewaffneten Drogenbossen aufgehalten, die dort in ihren Revieren Patrouille schieben und niemanden sehen wollen, der da nach etwas sucht. Sie hatten ihre Pistolen schon gezückt, um uns abzuknallen. Aber das ist wie bei Hunden, die riechen, wenn man Angst hat. Nur dann fallen sie dich an. Wir haben keine Angst mehr.
Im Kampf muss man leben, als ob man schon tot wäre, das hat Che Guevarra auch schon so ähnlich gesagt.
Wir sind nicht hier, um Hass zu verbreiten. Wir haben alle so unendlich viele Tränen vergossen. Aber nur unsere Wut bringt uns voran.
Unsere Wut auf eine Regierung, die sich mit ihrer totalen Ignoranz über uns lustig macht, die Angehörigen in ihrer Trauer vorführt wie Zirkustiere und ihnen immer neue Lügen aufbindet.
Wir brauchen keine Massendemonstrationen oder Menschenaufläufe! Wir wollen keine Treffen mit Regierungsvertretern! Wir wollen eine Veränderung von ganz unten!
Und wir danken Euch für Eure Unterstützung!
Der mexikanische Staat hat sich bis heute geweigert, die Verantwortung zur Aufklärung der Geschehnisse vom 26 September zu übernehmen. Es gibt keine ernstzunehmende juristische Untersuchung, keine neuen Gesetzesvorlagen, die aus dem Fall entstanden wären, keine Strafverfolgung – die ganze Nachforschung ist eine einzige mediale Simulation.
Sie wollten uns kaufen, haben einzelne von uns zu „Gesprächen“, wie sie das nannten, eingeladen und den Angehörigen 1,5 Millionen Pesos angeboten. Aber wir wollen keine Millionen, wir wollen unsere 43 compañeros und die anderen 20.000, die in unserem Land verschwunden sind und um die sich niemand kümmert in der Regierung.
Auch mit Deutschland haben wir ein offenes Kapitel. Diese Delegation von Abgesandten deutscher Politiker, die zu uns nach Ayotzinapa gereist ist, um sich zu „entschuldigen“ für die deutschen Waffen, mit denen unsere Brüder umgebracht wurden – war das zynisch oder naiv? Wenn jemand umgebracht wurde, nützt es nichts, sich danach zu entschuldigen, es muss strafrechtlich verfolgt werden. Warum gibt es bei euch keine richtige Untersuchung über die Verwicklung deutscher Waffen in Guerrero?
Wir wissen schon bald nicht mehr, was wir noch tun sollen, damit man uns hört, damit etwas passiert. Wir sind absolut verzweifelt! Wir bitten Euch, informiert zu verbleiben.
Und nicht zuzulassen, dass der mexikanische Staat es schafft, dieses Herz, das gerade so stark zu schlagen beginnt in Mexiko, wieder umzubringen.
Wir sind Mexikaner! Wir sind aus Guerrero! Wir sind es gewohnt zu kämpfen!
Es gibt so unendlich viele Menschen bei uns, die für weniger umgebracht wurden. Wir wollen die Wahrheit! Solange wir diese nicht wissen, sind unsere 43 am Leben und wir werden weiter nach ihnen suchen.
Es sind gerade erst sieben Monate her, aber wie viele Menschen haben uns schon vergessen.
Wir vertreten keine Interessen, wollen nur unser Land verändern. Unsere Bewegung ist fragil und kann jeden Moment scheitern. Aber das Bewusstsein, unser Land ändern zu müssen, ist klarer als dieser Fluss, der da draußen durch Berlin fließt.
Wenn schon der natürliche Tod so schwierig zu verkraften ist, wie dann erst das Verschwinden von so vielen Kameraden, von denen wir nicht wissen, wo sie sind – dieser Schmerz ist mit nichts vergleichbar.
Wir haben nichts mehr zu verlieren. Uns bleibt nur die Suche. Nach der Wahrheit.”
(Übersetzung aus dem Spanischen: Cordelia Dvorák)