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Vergewaltigungen in Indien

Indiens Wirtschaft boomt. Die Gesellschaft wandelt sich mit einer solchen Wucht, dass es zu massiven sozialen Brüchen kommt. Frauen sind zugleich Befreite und Opfer dieses Wandels.

© Ramesh LalwaniSchweigender Protest am India Gate

Ob Ordensschwester, Studentin oder Angestellte, ob jung oder weniger jung, in Begleitung oder allein, keine von ihnen bleibt verschont. Weder im Norden noch im Süden, Osten oder Westen, in Metropolen, Kleinstädten, Bussen oder Zügen, weder Zuhause noch auf der Straße, nirgends sind sie in Sicherheit. Erst seit kurzem reagiert die ganze Welt überrascht, schockiert und erschüttert auf die Vergewaltigungsfälle in Indien.

Bisher kannte man das Land in der westlichen Welt vor allem aus Dokumentarfilmen über das Elend, über Sadhus, Frauen mit langen Haaren und schönen bunten Saris, Shiva und Ganja, die Zither und Bollywood, den Ganges und den Himalaya, über allem lag der Schleier der Spiritualität. Könnte es sein, dass gerade dieser Schleier die Sicht versperrte?

Neuerdings zieht der indische Wirtschaftsboom das Interesse der Medien auf sich. Der liberalisierte Markt, die Globalisierung, der individuelle und bürgerschaftliche Ehrgeiz verbinden sich mit der Erinnerung an eine einstmals ruhmreiche Nation, das vorkoloniale Indien, das Indien der Antike, das Indien des Hindu-Reichs. Das Land strotzt vor Energie und Ehrgeiz, um sich aus seinen postkolonialen, elenden, im Sterben liegenden Überresten zu befreien. Der wirtschaftliche Liberalismus hat auch die Werte liberalisiert. Wie Gargantua hat die Mittelschicht begonnen, bisher unerreichbare Früchte zu verschlingen: Häuser, Autos, Reisen nach Europa, Haushaltsgeräte, Mode und importierte Schönheitsprodukte, Privatschulen und den gerade angesagten Schnickschnack – nichts ist verboten. Auf den weiterhin löchrigen und übelriechenden Gehsteigen, wo die Bettler, Waisen, Tagelöhner, Verrückten und Prostituierten leben, vor den hoch modernen Gebäuden, die an den tief hängenden Wolken kratzen, hat die Modenschau begonnen.

Das Land prahlt mit seinem wirtschaftlichen Wachstum, seiner nuklearen Macht, seinem Gesundheitssystem, seinem Informatikwissen, dem immensen Potential der jungen Generation und der Eliten. Für die Umverteilung der Reichtümer und für soziale Gerechtigkeit hat die Regierung nicht viel übrig. Diejenigen, die auf den unteren Stufen der Leiter bleiben, beunruhigen die Politiker nicht besonders. Analphabetismus, Bevölkerungswachstum, Arbeitslosigkeit, Kinderarbeit, die Tötung weiblicher Embryonen bleiben die größten Übel; zusammen bilden sie die Eisenschlinge, die der indischen Gesellschaft die Luft zum Atmen nimmt. Indien ist ein Land mit einer pyramidal hierarchisierten Gesellschaft. Das binäre Verhältnis zwischen Mächtigen und Machtlosen, zwischen Henker und Opfer ist immer und überall wirksam.

In diesem chaotischen, von sozio-ökonomischen Beben erschütterten Indien sind die Frauen unter den ersten Betroffenen – sie sind die Befreiten und die leichte Beute.

Vergewaltigungen gab es schon immer. In den Elendsvierteln, auf Baustellen und auf Feldern mussten vor allem Frauen aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen den Preis für ihr mageres Dasein zahlen. Aber ihre Schreie wurden zum Schweigen gebracht.

Was die aktuellen Vergewaltigungsfälle in Indien ausmacht, ist das Profil der Vergewaltiger und der Vergewaltigten. Arme Männer, oft Analphabeten, Arbeitslose und Indigene, die sich mit billigem Alkohol und Cybersex die Zeit vertreiben und von den spektakulären Veränderungen der indischen Gesellschaft überrollt werden, verlieren die Orientierung. Der Wirtschaftsboom hat die Frauen befreit und eine massive Veränderung der sozialen Codes mit sich gebracht. Und diese neuen Codes werden von Männern aus benachteiligten Schichten, die die sehr sichtbare Veränderung der indischen Frau auf ihre Weise deuten,als Ganzes abgelehnt. Der beschleunigte soziale Wandel ist gekennzeichnet vom Schock zweier Welten, vom sozialen Bruch, von der schaurigen Rache des Proletariats. Letztendlich sind in Indien die Vergewaltigungen von Frauen der sexuelle Ausdruck des Klassenkonflikts.

Diese Umwälzung wird von einer anderen Neuerung begleitet: Das Schweigen wird gebrochen. Bisher wagten es Betroffene nicht, sich an die institutionelle und/ oder die soziale Justiz zu wenden, die ihnen oftmals selbst die Schuld zuwies. Heute ergreifen sie das Wort. Die Redefreiheit wird erkämpft, die Revolten sind zahlreich und entschlossen.

Werden diese Revolten etwas gegen die Vergewaltiger ausrichten, die in ihren Opfern die wahren Täter sehen? Und was ist mit den vielen Frauen aus benachteiligen Schichten, die sexuelle Belästigung erfahren? Ist eine Vergewaltigung bei zwei Menschen derselben benachteiligten Klasse weniger spektakulär? Wird sie als Begleiterscheinung des Überlebenskampfs gewertet? Als mehr oder weniger einvernehmlich?

Tagore sagte: „Die, die du unten und geknechtet zurücklässt, werden dich selbst nach unten ziehen.“ Wer wird sich auf die unteren Stufen der Leiter begeben, auf den Boden, in den Matsch, um die Hand zu reichen, um zuzuhören, um Licht zu bringen?

 

(Übersetzt aus dem Französischen von Lena Müller)

 

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