Was wir von den Griechen lernen können, wenn in Kreuzberg nichts mehr geht – Geschichten aus einem gar nicht so melancholischen Land.

Das ist ja auch mutig, jetzt als Deutsche nach Griechenland zu fahren, hörte ich kurz vor der Abreise noch jemanden sagen. Jetzt erklingt eine Melodie, die Klappe der Fähre öffnet sich. Es ist zwei Uhr in der Nacht, die Fahrt von Athen hat acht Stunden gedauert und ich habe nur eine vage Vorstellung, wie der Ort aussieht, an dem ich gerade ankomme. Eine kleine Insel der Kykladen, knapp zweitausend Einwohner. Ich bin hier noch nie gewesen. Am Pier steht jemand mit einem Schild und einem Wagen, wir fahren ein paar Minuten durch die Dunkelheit, wechseln müde Worte, das Zimmer ist kalt und feucht, ich schlafe sofort ein.
Als ich am nächsten Morgen auf den Balkon trete, liegt da zwischen Felsen und Meer eine Schönheit, die ich so überwältigend nicht erwartet hatte. Kalimera!, ruft mir das Dorf entgegen und wie überall auf der Welt gilt, wenn man etwas von ihr erfahren möchte: Stammlokal finden. Ab dem dritten Tag werde ich hier bevorzugt behandelt, ab dem fünften Tag gehöre ich zum Inventar. Mit sechs griechischen Männern, die alle Jogginghosen tragen, sitze ich am Tresen, wir trinken Fix Hellas und sprechen leise. Die Griechen sind ein melancholisches Volk, heißt es, und laut gelacht wird hier sehr selten. Ich kenne alle Gäste und alle kennen mich. Es gibt immer einen, der mir die Geschichten der anderen erzählt. Ich weiß von der Töpferin, deren Mann letztes Jahr starb, ich weiß, dass die Mutter von dem Kerl ganz rechts das Olivenöl selbst presst, dass ich ihm, unter der Hand natürlich, in kleinen Plastikflaschen abkaufen kann. Ich kenne die Geschichte hinter dem kleinen Grabstein an der Kreuzung, der Verkehrsunfall vor ein paar Jahren, und wie es weiterging mit seiner Familie, nicht gut. Es sind eine Menge traurige Geschichten, die ich höre, von dem harten Winter, dem Sommer, der nur aus Arbeit besteht, vom Alkohol, und die gute Neuigkeit, dass heute endlich das Schiff angekommen ist mit der Zahnprothese für den Wirt. Jetzt kann der wieder lachen und morgen gibt es Hai.
Ein paar Tage später wird der Bruder des Mannes links am Tresen sich in Athen das Leben genommen haben. Er habe bei einer Bank gearbeitet, erzählt man mir, anständig sei er trotzdem gewesen, niemand will es verstehen. Vom Druck reden sie und davon, dass sich immer mehr Männer umbringen seit Beginn der Krise. Andere sagen, der Schock sei vorbei. Die Krise ist Routine. Ob sie jemals aufhört, ob es langsam besser wird, das weiß niemand, das interessiert auch nicht mehr. Die Männer in der Kneipe wollen die Drachme zurück. Sie zeigen mir die alten Scheine, jeder hat noch einen in der Tasche, hinter den Schnapsflaschen liegt auch noch ein Tausender. Fuck the EU, sagen sie.
In der Ecke läuft der Fernseher. Hunderte von toten Flüchtlingen im Mittelmeer, die schlimmste Katastrophe seit Lampedusa im Oktober 2013. Wir starren auf die Bilder. Zwei Pakistani, zwei Albaner, vier Griechen und ich. Noch nie war es so still in dem Lokal. Es sind auch ihre eigene Geschichten, die so hätten enden können. Sie sind hier gestrandet, in diesem Land, das nicht das Ziel war. Niemand sagt ein Wort. Wir trinken Rakomelo, heißen Raki mit Honig und Zimt. Es ist kalt in dieser Nacht.
Ich steige in Autos und auf Motorräder, lasse mich mitnehmen, mir die Insel zeigen, das Land erklären. Sie schimpfen über die Politik, die Troika und immer wieder über die Griechen, danach gehen sie mit mir in die ehrlichsten Lokale, die ranzigsten Cafés, an die imposantesten Buchten. Sie wissen, an welchen Stellen das Wasser um diese Zeit schon warm ist. Wir sitzen in einem Kloster, das in den Felsen gehauen wurde und trinken hauseigenen Kräuterschnaps. Wir scherzen mit Mönchen. Wir brettern über die Insel und hören Elvis.
Man zeigt mir ein Haus in den Bergen und sagt: Hier kannst du dich verstecken, wenn du zuhause jemanden umgebracht hast. Hier wird dich niemand finden, wir passen auf dich auf. Dieses Wissen löst tatsächlich grundtiefe Beruhigung aus. Ein solches Angebot hat mir noch niemand gemacht.
Wenn ich durch das Dorf schlendere, kommen jetzt die Händler aus ihren Läden: Du bist immer noch da?! Dass jemand länger als eine Woche auf der Insel bleibt, ist ungewöhnlich, verdächtig sogar. Ob ich jetzt bleibe, fragt man mich, ob ich mich verliebt habe. Das kommt ja häufig vor, dass Frauen sich verlieben auf der Insel. Ja, die Liebe ist eine Insel. Und es kommen seit Jahren weniger Touristen. Die Griechen haben kein Geld mehr für Ferien. Die anderen haben Angst vor dem Chaos, den ewigen Streiks. Die Franzosen und Deutschen haben alle schon zuhause die gesamte Urlaubskasse abgehoben, weil sie fürchten, hier könnten die Banken zusammenbrechen und im ganzen Land gebe es kein Geld mehr. Wir schauen auf den Hafen, an dem seit zwei Wochen kein größeres Schiff mehr angelegt hat, keine einzige Fähre. Bauarbeiten, jetzt, im Mai. Wenn es losgeht mit dem Tourismus, bauen die den Hafen um, kollektives Kopfschütteln. Irgendeiner fängt wieder davon an, dass hier bald die Wasserflugzeuge landen sollen, direkt aus Athen. Dieses bald dauert jetzt schon über zehn Jahre, worüber alle froh sind, sogar die Wirte. Es soll bleiben wie es ist, genauso, nicht mehr, aber vor allem nicht weniger.
Zurück in Athen klaut man mir als erstes das Portemonnaie, natürlich mit allem drin. Das waren die Bulgaren, sagen die Griechen.
Meine Vermieterin kommt vorbei und meint: Jetzt trinken wir erst mal was. Eine halbe Stunde später steckt sie mir zweihundert Euro zu, damit ich nach Hause komme. Viel zu viel, protestiere ich. Und sie sagt: Jetzt lass mir doch die Freude, einer Deutschen Geld zu leihen. Sie rät mir die Scheine auf griechische Art zu tragen, in den BH gesteckt. So mache ich es, mit den letzten Scheinen am Busen komme ich in Berlin an. Ich bestelle telefonisch eine neue Kreditkarte. Kann dauern, höre ich, der Kartenhersteller wird gerade bestreikt. Und die Post, die streikt ja auch. Am Abend laufe ich mit einem Freund durch Kreuzberg, er ist auf der Suche nach Bargeld und alle Automaten sind leer. Die Fahrer der Geldtransporter befinden sich in einem unbefristeten Streik. Es wird empfohlen überall mit Karte zu bezahlen. Ich würde am liebsten direkt zurückfahren und den Männern am Tresen erzählen, was das hier für Zustände sind. Wahrscheinlich würden sie sehr laut lachen.
Liebe Fr. Fricke,
was Sie von mir lernen könnten, falls in “Ihrem Kreuzberg” nichts
mehr geht, sind viele von mir persönlich erlebten Geschichten aus
“Griechen-Ländern”, die außerhalb Ihrer Wahrnehmung
geschrieben worden sind. Mein Fazit aus Ihrem Blogbeitrag
wäre: “Arme, naive Fr. Fricke”…wenn ich genau wüßte daß
Ihr Satz: “Was “wir” von “den” Griechen lernen können”…
ernst gemeint und nicht auch bloß “unterhaltsame Geschichtenüberschrift” ist.
Die meisten Menschen sind im Kern gut…und “trotzdem”
ist die Welt so wie sie zu erleben ist, “Geldscheine im BH”…
s.Gegenwartgeschehen weltweit. Ein “Schönschreiben”und oder
ein “Relativieren” hilft nicht weiter; wenn’s gut werden soll…
das humanide(e) Leben auf der Erde.
Mit “melancholisch-freundlichem” Gruß,
W.H.
Sehr geehrter Herr Blender, da Sie vor allem Überschrift und Teaser kritisieren: Der ist von der Redaktion gesetzt. Frau Fricke hat die “bloß unterhaltsame Geschichtenüberschrift” nicht zu verantworten. Danke für Ihre Kritik und den Konjunktiv. Beste Grüße.
Wie soll ich "Herr Blender" verstehen, Fr. Bossong?
Würden Sie das eventuell vielleicht zurücknehmend korrigieren?:=)
LG,
W.H.
Verzeihung, das hatte ich nur aus Ihrer E-Mail-Adresse geschlossen, war nicht als Unterstellung gemeint.
...da Sie vor allem Überschrift und Teaser kritisieren...
Hier empfehle ich Ihnen, meinen Text vielleicht mehrfach zu lesen,
damit Sie ihn wirklich verstehen…meine “tieferen
“Schreibergedankengänge”.
Aus Rücksicht auf den “Blograhmen” habe ich mich hier für
“Schreibkürze” entschieden, aber trotzdem “tief gewürzt”…
so gut ich konnte.
Danke für die Würze.
Titel eingeben
Die Autorin scheint hier nchts mehr als Krisen-Pornographie zu machen: besucht eine Insel, begafft eine Woche lang die Einheimischen, schreibt über ihr Elend, kehrt zufrieden nach Berlin zurück.
mehr als eine Woche...
Zitat: “Du bist immer noch da?! Dass jemand länger als eine Woche auf der Insel bleibt, ist ungewöhnlich, verdächtig sogar.” Zitatende.
Soviel Zeit muss sein!
Nur kein Neid,
Text eingeben
OK,
natürlich etwas mehr als eine Woche. Längere Zeit, tiefere Genugtuung… Gilt auch bei anderen Sachen ! 🙂
Natürlich soll alles bleiben, wie es ist!
Die Griechen gehen so früh wie möglich in Rente, ernähren sich mediterran, werden mindestens 100 Jahre alt, die Euro-Gruppe bezahlt das Vergnügen, und die Bulgaren greifen in die Äppelkiste, um die Euros raus zu angeln. Grund zur Melancholie kann es da nicht geben.
Dagegen kann man doch nun wirklich nichts einwenden!
Mit freundlichen Grüßen!
Bernard del Monaco
Für das Elend der Griechen möchte man nicht verantwortlich sein
Wenn sie sich doch nur mal dazu durchringen würden von ihren Reichen Steuern zu verlangen, dann würde einem die Hilfe gleich viel leichter fallen. Aber das ist wohl das eigentliche Problem: Die Griechen sind herzensgute liebenswerte Menschen. Die Gesellschaft in der sie leben ein Leviathan.
Was wir von den Griechen lernen können:
“Es soll bleiben wie es ist, genauso, nicht mehr, aber vor allem nicht weniger.”Dort und/oder bei uns, frage ich die Redaktion, die den Titel gewählt hat…Doch wer soll das bezahlen?
und wenn sie nicht gestorben sind...
… GR hat 2012 einen Schuldenschnitt (knapp 100 Mrd.) bekommen, bis dahin mindestens das doppelte an Förderungen, danach locker nochmal dasselbe. Das sind etwa 1/2 Billion Euro.
Davon ist auch Geld über diverse Kanäle an die kleine Insel gegangen. Bei dem Geldsegen wäre ich auch entspannt und würde das Meer genießen.
Unbezahlbare Lebenserfahrungen
Dass im Portemonnaie nur Kleingeld steckt und alles Wichtiges im Brustbeutel, hab ich 1987 in der Türkei gelernt. Hat mir später auch in D-Land geholfen.
Habe den Text gerne gelesen, besonders schön fand ich diese Stelle:
“Man zeigt mir ein Haus in den Bergen und sagt: Hier kannst du dich verstecken, wenn du zuhause jemanden umgebracht hast. Hier wird dich niemand finden, wir passen auf dich auf. Dieses Wissen löst tatsächlich grundtiefe Beruhigung aus. Ein solches Angebot hat mir noch niemand gemacht.”
Dazu: Locas In Love, “Honeymoon is over”:
“Und wenn ich rauskriegen will, wem ich vertrauen kann,
laufe ich dahin, wo Schüsse fallen und außer dir warf sich noch niemand vor mich um die Kugel zu fangen.”
In diesem Sinne,
kalisphera,
Danke für den großartigen Text.
Die Gelassenheit, mit der man sich an die Krise gewöhnt hat, die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die man den Deutschen entgegenbringt, die Einsicht der Griechen, dass an Griechenlands Problemen in erster Linie griechische Politiker schuld sind: All das habe ich auch außerhalb von Amorgos erlebt.
Ich verstehe überhaupt nicht die Empörung, die Ihnen in den Kommentaren entgegengebracht wird.
Ob Sie in Athen nun gerade von Bulgaren beklaut wurden, weiß ich natürlich nicht. Darauf, dass es keine Griechen waren, würde ich aber auch wetten. Auf meinen 17 Reisen nach Griechenland hat man einmal (erfolglos) versucht, mich zu beklauen. Das war in der Athener U-Bahn, die Täter waren offensichtlich keine Griechen. Die Mitfahrer, die mich warnten, aber schon.
Toller Text
Danke!!! Dieser Text hat alles, was einen guten Text ausmacht: Humor, Ernsthaftigkeit, Distanz, einen guten Blick, Präsenz und Pointiertheit.