Ein Brief aus Mostar, von Gabriela: Zwanzig Jahre liegt die Zerstörung der bosnisch-herzegowinischen Stadt am Flusse Neretva bereits zurück. Die Stadt ist teilweise wieder aufgebaut, aber unversöhnlich geteilt, und die Segregation schreitet fort. Doch die Seele und die Erinnerung Mostars liegen im Multikulturalismus.
Liebe Marion,
Du hast mich gebeten, Dir einen Brief zu schreiben, aus Mostar in Bosnien-Herzegowina, wo ich lebe. 1992/93, als der Krieg in meine Heimat kam, war ich 24 Jahre jung. Heute bin ich 46 und vergleiche immer alles: vor dem Krieg und nach dem Krieg. Ich weiß nicht warum, es ist eben so. Vielleicht sollte ich nicht immer vergleichen, denn das Leben geht ja weiter, die Zeit steht nicht still. Möglicherweise würde ich heute ohne den Krieg auch nicht anders dastehen. Für mich ist immer an allem der Krieg schuld.
Stellt Euch das vor: Gerade drei Monate waren wir damals verheiratet, mein Mann und ich, und wir hatten einen guten Job. Alles schien so perfekt. Und zerplatzte wie eine Seifenblase. Plötzlich bist du mitten im Krieg, musst um dein Leben bangen und um das Leben deiner Familie. Am 1. März 1993 kam mein Sohn zur Welt: ein Kriegskind. Ich erinnere mich, wie ich in einer Schlange stand, um Babynahrung zu ergattern. Wie fern ist das jetzt alles. Meine Freundinnen und ich sprechen oft darüber: Es fühlt sich an, als hätte uns jemand die Jahre von 1992 bis 1995 gestohlen.
Mostar ist die schönste Stadt, die ich kenne. Weltbekannt für ihre Alte Brücke aus der Osmanischen Zeit. Auch die Schönheit wurde niedergeschossen. Als die Brücke zerstört wurde, war es, als hätten wir ein Familienmitglied verloren. Seit 2004 steht sie wieder. Sie wurde wieder aufgebaut, natürlich mit internationaler Hilfe aus Italien, Holland, der Türkei, der Weltbank… Und ich arbeite seit ein paar Jahren in einem sehr schönen traditionellen Hotel. Ich treffe dort Gäste aus aller Welt. Endlich fühle ich mich wohl und denke seltener an den Krieg.
Das Hotel befindet sich im „östlichen Teil“ der Stadt – im muslimisch-bosnischen. Ich wohne im „westlichen Teil“ – dem katholisch-kroatischen, in derselben Wohnung wie vor dem Krieg, obwohl ich Bosnierin bin. Ich mag nicht so reden, aber die Teilung ist die Realität. Die Boulevardstraße, die „Ost“ und „West“ trennt, bildete im Krieg die Frontlinie. Dort liegt auch das Alte Gymnasium, ein prächtiger Schulbau aus der k.u.k.-Zeit, die einzige Oberschule im ganzen Land, in der bosnische und kroatische Kinder unter einem Dach lernen – aber nicht zusammen in einem Klassenzimmer. Die kroatischen Politiker bestehen auf einer kroatischen Identität und kroatischem Unterricht. Das finde ich schade. Wie soll die Zukunft aussehen, wenn die Kinder nicht zusammen aufwachsen und lernen können? Jetzt verlangen die meisten kroatischen Parteien auch einen eigenen kroatischen Fernsehsender. Und im „westlichen“ Teil tragen jetzt einige Straßen die Namen von Kroaten der Ustascha, aus der Zeit des faschistischen „Unabhängigen Staates Kroatien“: die Mile-Budak Straße, die Vokic-Lorkovic Straße…
Um zu meiner Arbeit zu kommen, durchquere ich jeden Tag das Zentrum und gehe über die Tito Brücke, die wie die Alte Brücke im Krieg zerstört war und wieder aufgebaut wurde. Ich komme am Neretva Hotel vorbei. Dort holen mich die Erinnerungen ein: Ich höre Lieder, das Lachen der Leute, die gute Stimmung im Garten des Hotels. Das alles existiert nicht mehr, nur die Ruine steht noch. In den Cafés sitzen junge Leute herum und schlagen die Zeit tot. Sie sind arbeitslos. In Bosnien herrscht heute eine Arbeitslosigkeit von fast 50 Prozent. Am Ende der Fejica Straße biege ich links ab und stehe vor der Karađozbeg-Moschee – auch im Krieg zerstört und wieder aufgebaut. Ich schaue hoch zum Minarett, so hoch, so elegant, es ist die größte Moschee in der Herzegowina. Nun sind es nur noch wenige Meter zum Muslibegovic Haus, dem kleinen Hotel und Museum aus Osmanischer Zeit, das den Krieg unbeschadet überstanden hat. Dort stehen schon Gäste, und ich beeile mich, um sie zu begrüßen.
Meine schöne Stadt hat ihre Seele verloren. So viele Freundschaften wurden zerstört. Die alten Mostar-Bewohner gibt es nicht mehr. 30.000 wurden vertrieben und kamen nicht mehr zurück. Vielleicht haben nicht nur die Politiker, sondern auch die Menschen schuld an der Teilung: Die meisten verkauften seit dem Krieg, wenn sie im „falschen“ Stadtteil lebten, ihre Wohnungen und Häuser und zogen entweder ganz weg oder in den anderen, für sie „richtigen“ Stadtteil. Die „Neuen“ – Bosniaken und Kroaten, die vom Land in die Stadt zogen – brachten ihre eigenen Sitten mit. Es ist nicht mehr dieselbe Stadt. Das macht mich so traurig, es tut weh. Ich will nicht so empfindlich sein. Vielleicht ändern sich ja auch andere Städte. Vielleicht hat es nicht nur mit dem Krieg zu tun. Vielleicht liegt es am Älterwerden. Vielleicht, vielleicht, vielleicht…
Dennoch lebt es sich heute wesentlich besser als in den ersten Nachkriegsjahren. Wenn die wirtschaftliche Situation besser wäre, würde auch alles andere hier besser.
Aber eines kann ich nicht verwinden: Bosnien war immer ein multikulturelles Land. Und ich wünsche mir so sehr, auch weiterhin in einem multikulturellen Land zu leben. Ich wünsche mir für meine Kinder und die neuen Generationen Frieden und eine bessere Zukunft und nie wieder Krieg. Wie soll das gehen, in einer Stadt, die so unversöhnlich gespalten ist, in einem Land, das sich auf nichts Gemeinsames einigen kann?
Mit freundlichen Grüßen,
Gabriela
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