In unserer beschleunigten Welt herrschen Irrsinn und Frustration. Höchste Zeit, Arbeit liegen zu lassen, um auch gesellschaftlich voranzukommen.

Ich kenne ein kluges kleines Mädchen. Das Mädchen hat ein sehr dummes Haustier, einen Hamster. Die Eltern fanden einen Goldhamster leichter zu handhaben als eine dominante Katze oder ein pfiffiges Pony – Wesen, von denen das Mädchen unendlich viel lernen könnte. Stattdessen der etwas beschränkte Hamster. Die Tür seines Käfigs steht immer offen. Doch die meiste Zeit verbringt er in seinem Laufrad. Er rennt und rennt. Und wenn er müde aus dem Rad steigt, vergräbt er sich im Heu und schläft. Ansonsten stopft er sich die Backen mit Futter voll. Manchmal versucht er, den Käfig zu verlassen, seltsamerweise immer nur dann, wenn seine Backen maximal gefüllt sind. Das Gesicht des Hamsters ist dann rechts und links so breit, dass es nicht durch die Käfigtür passt. Er probiert es trotzdem. Es sieht furchtbar aus. Im Hirn dieses Tieres muss eine unglaubliche kognitive Dissonanz herrschen. Irgendwann klettert der Hamster frustriert wieder ins Laufrad und rennt.
Die meisten Leute, die ich kenne, rennen auch. Alle sind wahnsinnig beschäftigt. Die meisten Stunden des Tages gehören natürlich der Arbeit. Schuld daran ist die Leistungsgesellschaft, die performing society, wie sie so schön im Englischen heißt. Würden wir in einer Erholungsgesellschaft leben, würde der Großteil unserer Zeit dem Müßiggang gehören. Wegen allerhand seltsamer historischer Entwicklungen haben wir aber die performing society abbekommen.
Einige Dinge machen ja tatsächlich mit Schnelligkeit mehr Sinn: Sahne schlagen zum Beispiel oder Autorennen. Warum aber schnell leben und arbeiten besser sein soll als langsam leben und arbeiten, diese Frage ist noch nicht geklärt. Weil mehr Tempo mehr Geld bedeutet, und das bringt dann Wohlstand für alle? Seit dreißig Jahren lässt sich diese Idee zwar mit Wirtschaftsdaten nicht mehr gut belegen, aber wir haben leider gerade keine andere Idee parat. Also weiter so!
Wegen der vielen Arbeit und all der anderen Leistungen, die in der Leistungsgesellschaft erbracht werden müssen, sind die Menschen oft sehr, sehr müde. Dann vergraben sie sich im Heu, und kurz vor dem Einschlafen denken sie: Ich muss mein Leben ändern – aber oh Gott, das ist der anstrengendste Gedanke, den ich je hatte.
Fitnesstrainer und Therapeuten versuchen, die erschöpften Menschen der westlichen Welt so weit funktionsfähig zu halten, dass die Performance in den wesentlichen Lebensbereichen nicht nachlässt. Performance und Performance-Erhalt schlucken den Großteil der Lebenszeit einfach weg. Und so verfügen in den reichsten und freiesten Ländern der Erde die Menschen extrem wenig frei über ihre Zeit. Und können Leute im Hamsterrad eigentlich noch politischen oder gesellschaftlichen Fortschritt produzieren?
Die Menschen sehnen sich ganz offensichtlich nach Entschleunigung. Sie gründen Vereine für langsames Essen, und sie legen in hektischen Großstädten Gärten an, in denen man stoisch mit den Händen in der Erde wühlen darf. Natürlich kann sich jeder jederzeit zurücklehnen und den Regeln der performance society verweigern. Das machen auch einige, und es sind nicht die Dümmsten. Statt dem Mainstream zu folgen, führen sie mit sich selbst oder mit Gleichgesinnten ein anderes Leben. Leben, in denen ausgeschlafen werden darf, in denen Dörfer eigene Stromversorgungen entwickeln und Menschen in Alternativwährungen bezahlen, die nahezu unabhängig von den „echten“ Wirtschaftskreisläufen funktionieren. Manche dieser Ideen sind richtig gut, aber sie bleiben abgekoppelt. Die Menschen, die sie erfunden haben, mögen frei sein, aber wie die Hamsterradläufer ändern sie nichts am westlichen Lebensstil, an dem irren Tempo, das auf die Dauer alles kaputt macht, das Klima und die Erde und die herrlichsten Tierarten. Wir wissen das alles, man müsste mal was dagegen unternehmen, aber oh Gott, schon beim Nachdenken darüber wird man so müde.
Die großen Fragen kosten so viel Energie. In der Physik gibt es den Energieerhaltungssatz. Er sagt, dass ein Verlust von Energie nicht möglich ist, der Transfer von Energie aus einem System in ein anderes aber schon. So ist es auch mit der Zeit. Ihr Verlust ist nicht möglich, der Transfer aus einem System in ein anderes aber durchaus. Wie wäre es deshalb, Zeit aus der Leistungswelt abzuziehen und in die Ruhewelt umzuleiten? In einem weiteren Schritt könnte man sogar darüber nachdenken, ob Zeit auch für übergeordnete Projekte – politische Anliegen – verwendet werden könnte. Das ginge aber nur mit einem gewissen Zeit-Grundstock. Zuerst also: sich selbst mehr Zeit nehmen. Ganz verrückt einfach Arbeit liegen lassen. Nein sagen, unsinnige berufliche und private Aufträge ablehnen. Und: entspannte Leute nachahmen. Rumhängen, gar nichts tun. Von Hängern lernen, heißt siegen lernen.
Kürzlich besuchte ich das Mädchen mit dem Hamster. „Und was machst du so?“ fragte sie. „Ich schreibe einen Text“, sagte ich. „Worüber?“, wollte sie wissen. Ich erzählte ihr, dass man großen Firmen Zeit wegnehmen und sie armen Menschen schenken könnte, wie bei Robin Hood. Das Mädchen fand das gut, wollte mir aber trotzdem lieber den Hamster zeigen. Er saß erstarrt in seinem Laufrad. „Er ist gestresst“, flüsterte das Mädchen. Sie streichelte den Hamster hinter dem Ohr. Dann nahm sie ihn vorsichtig hoch und setzte ihn vor den Käfig. Verschreckt starrte er uns an. Dann zurück zum Käfig, dann wieder zu uns. Er atmete heftig. Schließlich rannte er los, mitten hinein in die geschützte Welt eines Mittelschichts-Kinderzimmers.