Von Tagen und Nächten in einem Tokioter Hotelbett

Das Bett steht an einem Fenster im 21. Stock. Ich liege im Bademantel unter der Decke, den Kopf auf dem rechten Arm abgelegt. Ich höre keine Musik. Ich höre nur: Das Klacken des Luftbefeuchters. Das Geräusch meiner Haut auf der frischen Bettwäsche, wenn ich mich bewege, das Rumpeln in einem anderen Zimmer, das diffuse Rauschen von draußen: Motoren, Wind, Klimaanlagen, Stadt. Irgendwo eine Feuerwehrsirene. Ich blinzle. Da unten fährt ein Shinkansen vorbei. Autos, wie an unsichtbaren Bändern gezogen. Noch ein Shinkansen. Die Dächer und Fassaden glänzen in der Nachmittagssonne. Das Blinzeln wird immer mühsamer. Noch ein Shinkansen. Menschen strömen über einen Zebrastreifen. Die Augen fallen mir zu. Es ist so hell, als schliefe ich am Strand.
Als ich aufwache, ist es dunkel. Rot pulsieren jetzt die Lichter auf den Dächern der Hochhäuser. Auf dem Nachttisch steht meine Wasserflasche. Ich will danach greifen, da sehe ich, dass das Wasser darin zittert. Ich stelle sie auf den Boden. Immer noch. Letzte Nacht hat ein Japaner beim Karaokesingen auf den Kronleuchter gezeigt und gesagt: Earth Quake. Der Leuchter zitterte. Ich habe nichts gespürt. Und jetzt? Ich halte die Luft an. Ich spüre wieder nichts. Das Wasser zittert immer noch. Ich gucke aus dem Fenster. Alles sieht aus wie immer. Später ist das Wasser in der Flasche wieder still.
Ich habe Hunger. Ziehe mir etwas an und gehe raus. Esse in einem Laden an der Bar, stehend. Ich möchte wissen, was die rosafarbenen, winzigen, kugelhaften Blüten in meinem Essen sind, die mir bekannt vorkommen, weil sie so nelkig schmecken, aber süßer, viel süßer und saurer noch, ich komme nicht darauf. Niemand spricht Englisch. Die Köchin malt mir die Blüte ins Notizbuch und schreibt die japanischen Zeichen daneben.
Auf dem Weg zurück ins Hotel hört es sich an, als fege eine Orkanböe durch die Stadt. Irgendwo knallt es. Luft bläst mir ins Gesicht und ich bleibe stehen. Blätter rauschen. Links und rechts von mir ächzen die Häuser, plötzlich beginnt etwas zu knirschen, zu jaulen, es ist das Gehäuse einer Klimaanlage zwischen zwei Häusern. Wackelt die Erde? Ich kann es nicht spüren. Vor mir bleiben ein Vater, eine Mutter und ein Kind stehen und sehen sich genauso verwirrt um wie ich. Ich gehe weiter, biege um die Ecke, vor dem Hotel sitzen ein paar Leute und gucken in die Luft. Kaum jemand redet. Gegenüber lungern Arbeiter auf dem Gehweg und einer zeigt nach oben zu einem Hochhaus. Ich folge seinem Finger, aber ich sehe dort oben nichts. Ich setze mich zu den Leuten vor dem Hotel, und als sie aufstehen, stehe ich mit auf und wir fahren mit dem Aufzug in die Lobby im 16. Stock.
Dort herrscht eine milde Betriebsamkeit, ich lasse mich auf eine Couch sinken und sehe mich um. Ich bin gern in der Lobby. Man kann hier stundenlang sitzen und nach draußen starren, jahrelang wahrscheinlich und eigentlich ändert sich nichts, nur der Himmel wechselt seine Farbe und die Wolken ihre Geschwindigkeit. Zwischen den Wolkenkratzern, hinter den Dächern des Fischmarkts, sieht man ein paar Flecken Wasser, manchmal fährt ein Boot vorbei. Irgendwo noch weiter hinten eine Brücke, die sich im Milchdunst der Stadt auflöst. Im Hochhaus gegenüber fahren die Aufzüge rauf und runter, wie eine Installation hinter Glas.
Aus den Aufzügen steigen regelmäßig Paare mit Einkaufstüten, ein Kind fläzt barfuß auf dem Sofa, ein alter Mann schläft im Sessel, Koffer werden gezogen, Hüte zurechtgerückt. Ich gucke den Lichtern draußen beim Blinken zu. Stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren und höre den Lost-in-Translation-Soundtrack. Ich habe Lost in Translation zu oft gesehen. So oft, dass die Wirklichkeit der Stadt nicht mehr mithalten kann. Ich finde die Stadt magisch, weil ich den Film magisch finde. Noch schlimmer: Ich finde die Stadt eigentlich immer nur dann magisch, wenn ich den Soundtrack höre.
Ich nehme die Kopfhörer kurz raus, weil eine Durchsage ertönt. Zuerst auf Japanisch, dann auf Englisch. Irgendwas mit Earth Quake und: „If you find something unusual, please report to the staff.“ Ich stecke meine Kopfhörer wieder rein. „Turn my head / Into sound / I don’t know when I lay down on the ground.“ My Bloody Valentine, Sometimes, die Szene, in der Bill und Scarlett im Taxi über die Rainbow Bridge fahren, bevor er sie ins Hotelzimmer trägt. Ich tippe meine Twitter-App an. Ich lese: Schweres Erdbeben erschüttert Großraum Tokio. Stärke 8,2, Epizentrum 1000 Kilometer vor Tokio, im Meer. Es wurde bisher keine Tsunami-Warnung herausgegeben. 20 minutes ago. Vor 20 Minuten, das war, als ich unten auf der Straße stand und das Ächzen gehört habe.
Ich gehe auf mein Zimmer und setze mich aufs Bett. Ich öffne ein Glas Jumbo-Sake, aus dem Convenience-Store, das ist der beste, er hat mich und eine Freundin, mit der ich zwei Wochen lang durch Japan gereist bin, fast täglich begleitet. Jetzt ist diese Freundin weg und ich bin allein und ich weiß gar nicht, wann ich zuletzt gesprochen habe. Tage, die nur aus „Arigato“ und Handzeichen bestehen.

Oft versuche ich, ein Zeichen mit den Augen so lange nachzulesen, bis ganz von selbst eine Bedeutung kommt, das muss doch gehen, wenn man sich anstrengt, denke ich – aber es kommt nichts. Ich bleibe innerlich stumm, falle zurück in ein vorkindliches Analphabetentum und höre und lese nur: Geräusche. Formen. Farben. Symbole. Vor allem Geräusche. Irgendwie ist alles satter und klarer, irgendwie hören meine Ohren konzentrierter, weil meine Augen das Lesen aufgegeben haben.
Züge fahren vorbei. Autos rollen um die Kurve. In einem Bürofenster erhebt sich ein Mann von seinem Bürostuhl, der Sitz dreht sich noch, als der Mann schon nicht mehr zu sehen ist. An einer Kreuzung springt die Ampel auf Grün, eine Horde von Fußgängern überquert die Straße. Ein Taxi bremst. Fährt weiter. Da drüben färbt sich die Fassade grün, weil auf dem gegenüberliegenden Haus eine Werbetafel das Bild wechselt. Und da läuft jemand mit vollen Tüten aus dem Supermarkt. Alles bewegt sich außer mir.
Von oben auf eine Stadt zu gucken, ist, wie aus dem Flugzeug auf die Erde zu blicken oder von einer abgelegenen Wiese in den Sternenhimmel. Das Denken kollabiert. Weil man in diesem Moment checkt: Alles passiert gleichzeitig, alles passiert immer gleichzeitig. Es gibt ein Jetzt, ein einziges winziges Jetzt, das ist alles, was es gibt. Der Rest ist irre laut und vollgestopft und gleichzeitig. Ein einziger brabbelnder, gleichzeitiger Lärm, alles auf Speed, alles komplett egal.
Als Kind habe ich gedacht, bei anderen stünde die Zeit still, sobald sie aus meinem Blickfeld verschwunden sind. Als würde man die Pausetaste drücken. Freeze. Angehalten. Nur mein Film ging weiter. Der der anderen immer erst, wenn ich sie wieder sah. Dass sie ein Leben hatten, welches ich nicht kannte, an dem ich nicht live beteiligt war, wollte und konnte ich nicht begreifen. Was sie mir davon erzählten, hatten sie sich ausgedacht, redete ich mir ein. Es lagerte in ihren Köpfen als Alibi-Erzählprogramm, damit es den Anschein machte, sie hätten ein Leben. In Wahrheit war aber ich die einzige, die ein Leben hatte.
Raben kreischen, Sirenen werden laut und wieder leise, jedes Geräusch brandet auf und wieder ab. Ich lasse die Wanne volllaufen. Die kleine, viel zu kurze, aber tiefe Wanne. Das Wasser riecht nach Chlor und dann nach Grapefruit, als ich die Badetablette hineinfallen lasse. Wanne. Bett. Wanne. Bett. Bademantel. Sake. Ich könnte noch so viel machen. Tausend, Millionen Orte in dieser Stadt, die ich nicht gesehen habe. Ich könnte durch den Park wandern. Mit dem Boot fahren. Die Hatos-Bar. Ich müsste rausgehen und jemanden kennenlernen und wieder verlieren und dann die ganze Wehmut der Stadt darin spüren, dass diese Person namenlos bleibt. Die Stadt würde ihn oder sie wieder verschluckt haben und egal, wie lange ich suchte, ich würde ihn oder sie nicht wieder finden. Und alle Ecken, an denen wir in unserer kurzen Zeit gemeinsam vorbeigegangen wären, hätten jetzt ein anderes Gesicht ohne diese Person. Sie wären leer und kalt, wie Drehorte von Filmen, die man aufsucht und weiß: Die Handlung hat es nie gegeben.
Um halb zwei schaffe ich es immerhin in die Hotelbar. Jazzmusik. Trinke Magarita und Gin Tonic und Negroni, umgekehrte Reihenfolge. Neben mir sprechen zwei Männer, der eine vielleicht ein Deutscher oder ein Däne oder ein Pole oder etwas anderes, der andere Japaner.
„Did you feel it?“
„What?“
„Earth Quake?“
„Yeah, yeah.“
„You feel it?“
„Yeah.“
„Dangerous?“
„Safety!“
„Ok, thanks.“
Ich rauche eine. Gehe wieder auf mein Zimmer. Setze mich wieder aufs Bett. Sehe raus und kriege nicht genug davon. Langsam pulsieren die Lichter. Pulsieren, pulsieren, pulsieren, so ruhig und regelmäßig, wie mein Herz schlägt. Ich will nicht schlafen, ich will immer weitergucken.
In den Taxis Menschen, in den Autos Menschen, auf den Gehwegen Menschen, hinter den Fenstern Menschen, nebenan Menschen, obendrüber, untendrunter, einige schlafend, andere wach, und Vögel auch, und im Meer Fische, und ich auf meinem Bett, still und gleichzeitig. Und an meiner Fensterscheibe ein schwarzer Falter, der die ganze Nacht bei mir bleibt und erst morgens um halb sechs davonfliegt.

schicker artikel 🙂
moin moin
ich lese sehr gerne die artikeln von mercedes lauenstein, sie nimmt einen – in der fantasie – an die hand und führt einem in die gesichte, dass man glaubt dabei zu sein, schick!
auch der artikel mit der tram 19 ist klasse – danke
Oh, mein Gott, Menschen!
Darf ich Ihnen die Thaklamakan oder wenigstens die Äußere Mongolei empfehlen?
Übrigens habe ich in der Sahara an einem Brunnen mit handgetriebener Pumpe das erste Mal in meinem Leben Geld für Wasser bezahlt.
Erholen Sie sich gut von den Menschen!
Mit fielen Grüßen,
Bernard del Monaco