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Der ungarische Napoleon

Ungarn hat vor einem Vierteljahrhundert als erster Ostblockstaat den Eisernen Vorhang beseitigt. Nun will Premierminister Viktor Orbán eine Mauer entlang der serbischen Grenze bauen: 175 Kilometer lang und vier Meter hoch. Die Mauer soll das Land vor Flüchtlingen schützen. 

###© Delphi Filmverleih 

Ein Mädchen auf dem Fahrrad, in ihrem Rucksack eine Trompete. Es ist helllichter Tag. Das Mädchen fährt durch verlassene Straßen. Außer ihr ist niemand zu sehen. Noch bevor der Zuschauer sich die Frage stellen kann, was an dieser Szene eigentlich nicht stimmt, taucht hinter dem Mädchen eine Hundemeute auf. Hunderte von bellenden, wildgewordenen Hunden. Sie sind nicht hinter dem Mädchen her. Sie folgen ihr. Auf welcher Mission, wird der Film zeigen. Klar ist lediglich, hier hat eine Revolution stattgefunden.

Underdog, letztes Jahr in Cannes in der Nebenreihe „Un certain regard“ ausgezeichnet, kürzlich in den deutschen Kinos angelaufen, ist eine Gesellschaftsparabel, die vom Untergang der Humanität handelt. Hunde vereinen sich hier zum Aufstand, um ein System zu stürzen, das sie brutal verstoßen hat. Ihr Ausrasten ist eine Reaktion auf die empathielose Gesellschaft, in der sie leben. Man kann diese Metapher kitschig finden –  Hunde als Repräsentanten aller Benachteiligten und Isolierten dieser Welt, doch in dramatischen Zeiten muss die Kunst vielleicht zu dramatischen Mitteln greifen. Denn in erster Linie spiegelt der ungarische Regisseur Kornél Mundruczó in seinem Film die Zustände im eigenen Land wider.

Die ungarische Regierung will eine Mauer bauen. Vielleicht wird es auch nur ein Zaun. Die Maße jedenfalls sind bekannt: 175 Kilometer lang und vier Meter hoch soll sie werden und entlang der serbischen Grenze führen. Sie soll das Land vor Flüchtlingen schützen. „Das Boot ist voll“, verkündete ein Regierungssprecher letzte Woche und verwies auf die gestiegenen Zuwanderungszahlen: in diesem Jahr wurden 50.000 illegale Immigranten registriert, 2012 waren es nur 2.000. Für die meisten von ihnen ist Ungarn lediglich eine Transitstation auf dem Weg nach Westeuropa, als bedrohlich werden sie dennoch empfunden.

Der Bürgermeister der kleinen Grenzgemeinde Ásotthalom klingt erleichtert: „Natürlich befürworte ich den Bau der Mauer, weil sie nicht nur unser Dorf beschützen wird, sondern unser Land, am Ende sogar ganz Europa. Unsere Kinder werden uns für diesen Schritt dankbar sein.“ Und weiter: „Früher kamen sie aus dem Kosovo, jetzt kommen sie aus Afrika, Nahost und Bangladesch. Sie lassen riesige Müllhaufen zurück, manche steigen in unsere Häuser und Bauernhöfe ein und klauen Autos und Fahrräder.“

Ungarn hat in den letzten vier Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht. Seit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten steht Viktor Orbán, Vorsitzender der rechtskonservativen Partei Fidesz, international in der Kritik, die Menschenrechte systematisch einzuschränken, indem er Autoritarismus und Nationalismus propagiert. Orbáns Auffassung nach sind die Ungarn eine vom Aussterben bedrohte Art. Seine Äußerungen dazu sind unmissverständlich: „Wir wollen keine multikulturelle Gesellschaft.“ Oder: „Nach dem internationalen Kommunismus und dem internationalen Liberalismus ist Ungarn zu den eigenen patriotischen Wurzeln zurückgekehrt. So fühlen wir uns sehr heimisch heute.“ Oder: „Es ist eine immense Aufgabe und eine riskante Sache, wenn Kulturen zusammenleben, besonders wenn es um Islam und Christentum geht.“

2011 wurde eine neue Verfassung verabschiedet, in der die Begriffe Vaterland, Christentum, Familie und Nationalstolz eine große Rolle spielen. Zudem wurde der Staat umbenannt und heißt nicht mehr Republik Ungarn, sondern nur Ungarn, die republikanische Staatsform wurde getilgt. Da Pluralismus nicht mehr erwünscht war, wurden die Medien zentralisiert und die gesamte staatliche Berichterstattung homogenisiert. 2014 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass das 2012 erlassene Kirchengesetz, demzufolge religiöse Gemeinschaften vom Parlament anerkannt werden müssen, gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Ebenfalls 2014 wurde eine geplante Internet-Steuer nach Protesten der Bevölkerung zurückgezogen. 2015 initiierte Orbán eine Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe.

„Wir haben hier eine sehr ernsthafte demokratische Krise in Ungarn“, so der EU-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit, der Viktor Orbán als durchgeknallt bezeichnet: „Er stilisiert sich zum ungarischen Napoleon und geriert sich als kleiner ungarischer Kaiser.“ Die ungarische Philosophin Agnes Heller, eine scharfe Kritikerin der fundamentalistisch-nationalistischen Politik der regierenden Partei, sieht ihr Land in einem krassen Widerspruch zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex gefangen. Man könnte auch sagen, sie diagnostiziert Ungarn eine narzisstische Störung: „Die Logik ist folgende. Wir Ungarn sind die Besten. Wir sind die beste Nation. Wir haben immer Recht. Wir sind die Größten. Wir sind die Blume von ganz Europa. Aber wir sind immer missverstanden worden. Niemand will wirklich wahrnehmen, wie gut wir sind.“

Es gibt eine demokratische Minderheit im Land. Es gibt aber auch die rechtsextrem-nationalistische Oppositionspartei Jobbik, an die Orbán seine Wähler zu verlieren droht. Um zu zeigen, dass er der wahre Nationalist ist, hat er eine Kampagne gestartet, die Angst vor Einwanderern schüren soll. Mit dem Argument der wachsenden Terrorgefahr forderte er einen Einwanderungsstopp. Das Zusammenwachsen der ungarischen Gesellschaft habe keine Chance, wenn „wir eine Art Wohnheim-Party veranstalten“, zu der jeder kommen könne. Im ganzen Land sind Orbáns Imperative auf Plakaten zu lesen: „Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn keine Arbeitsplätze wegnehmen“ und „Wenn du nach Ungarn kommst, musst du unsere Kultur respektieren“.

Und er hat einen Fragebogen an die Bürger verschicken lassen, dessen Suggestivfragen aus einem Orwell-Roman stammen könnten: „Wussten Sie, dass Wirtschaftsflüchtlinge die Grenze illegal überqueren und deren Zahl zuletzt um das Zwanzigfache gestiegen ist? – Manche sagen, dass die fehlgeleitete Einwanderungspolitik Brüssels zum Anwachsen des Terrorismus führt. Stimmen Sie damit überein? – Stimmen Sie der Meinung zu, dass Wirtschaftsflüchtlinge Jobs und Existenzen der ungarischen Menschen gefährden?“

Ungarn hat vor einem Vierteljahrhundert als erster Ostblockstaat den Eisernen Vorhang beseitigt. Nun also eine neue Mauer, und sei es nur ein Zaun. Warum auch aus der Geschichte eine Lehre ziehen? Warum nicht all das ignorieren, was eine Mauer heute symbolisiert? Warum nicht sich dem naiven Glauben hingeben, eine Mauer könnte irgendjemanden abhalten? Warum nicht den Schleppern die Möglichkeit geben, sich mal so richtig zu bereichern? Warum nicht einfach in die selbstgewählte Isolation gehen? Die Totalität genügt schließlich sich selbst.

Ein Hund, der nach zwei Wochen im Tierheim keinen Besitzer gefunden hat, wird getötet, so lautet eins von den unzähligen neuen Gesetzen der Orbán-Regierung. Die Hundedarsteller aus dem Film Underdog fanden jedoch allesamt ein Zuhause. „Die Leute rissen sich geradezu darum, echte Filmstarhunde bei sich aufnehmen zu dürfen“, so der Regisseur Kornél Mundruchzó in einem Interview.

 

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