Real, digital, katastrophal –Worte beglücken und verschrecken uns. Im Internet schlagen sie besonders gern über die Stränge. Betrachtungen über das Lesenlernen auf der Straße und im Netz.
Wenn wir dieser Tage mit unserem kleinen Sohn unterwegs sind, brauchen wir mehr Zeit als sonst. Er hat nämlich gerade lesen gelernt, bleibt dauernd stehen und liest alles, was ihm in die Quere kommt: Autoschilder, Werbeschriften, T-Shirt-Aufdrucke, Zeitungsschnipsel, Aufkleber. Konzentriert entziffert er die Botschaften, jede einzelne kriegt bei ihm eine Chance. Kann er sich keinen Reim auf sie machen, geht er weiter bis zur nächsten. Bücher interessieren ihn weniger. Die Texte begegnen ihm und er begegnet ihnen, auf Augenhöhe, auf der Straße.
Immer wenn mein Sohn etwas lernt, lerne ich von ihm: So, wie er mich vor ein paar Jahren in die Schönheit von Autotransportern, Radladern und Kranwägen eingeweiht hat, staune ich heute über die Zettelchen an Laternenpfählen, über die vielen Schilder an den Häusern, über den allgegenwärtigen Text, der da draußen im Dreck liegt. Wo man geht und steht, gibt es etwas zu entschlüsseln. Hier zum Beispiel, auf meinem Platz im Café, lese ich, während ich schreibe, zum ersten Mal richtig, was über einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite steht: „Institut für Rehabilitationswissenschaften“. Zu was wohl die Menschen verurteilt wurden, die hier rehabilitiert werden sollen? Und was das wohl für eine Wissenschaft ist?
Ich kann mich noch erinnern, dass ich ähnlich gestaunt habe, als ich mich 1993 zum ersten Mal im Internet bewegte: Von Surfen konnte damals noch keine Rede sein, es war ein neugieriges Stolpern von einer brandneuen Website zur nächsten, an einem Computer der Uni in München. Begegnungen mit zunächst einmal gleichberechtigten Botschaften, manche rätselhaft, manche mit hohem Wiedererkennungs- oder Assoziationswert. Begegnungen auf Augenhöhe, in den Straßen des digitalen Raums.
Mein Sohn wird bald lernen, die Laternenpfähle auch mal links liegen zu lassen. Er wird lernen, dass Texte hierarchisiert sind und der öffentliche Raum, in dem er ihnen begegnet, Strukturen unterworfen ist. Was an der Litfasssäule klebt, wurde bezahlt und ist genehmigt; was am Bauzaun klebt, wurde nicht bezahlt und hat mit Glück eine Lücke gefunden; das Graffiti an der Hauswand ist eigentlich verboten.
Im Internet kann bei uns – noch – jeder und jede mit wenig Geld Plakatwände aufstellen und Botschaften in die Welt senden. „Digital Natives“ gibt es nicht, ebenso wenig wie Babies, die lesend geboren werden. Während wir uns alphabetisieren, begreifen wir das Feld, das uns die Texte bereitstellt, als ein bearbeitetes und ein beherrschtes Feld. Auch das Internet war natürlich von Anfang an strukturiert, der Freiheitsgewinn entstand nicht durch Abwesenheit von Strukturen, sondern durch die Dynamik und Beweglichkeit, mit der sich die Strukturen bildeten und veränderten.
Ich bin auf dem Land aufgewachsen, in einer Umgebung, in der man Anfang der 70er Jahre das Lesen wirklich nur aus Büchern lernen konnte. Alphabetisiert nicht auf der Straße, sondern in der Privatheit der bildungsbürgerlichen Bibliothek. Bücher und Kammermusik bildeten gemeinsam den Schutzraum, der uns vor den Schlachtfeldern des Kapitalismus abschottete. Wir waren Bücher-Junkies, Binge-Leser, fraßen die Romane weg, wie man heute Fernsehserien wegfrisst. Die Bücher, so wie heute auch die TV-Serien, schirmen unser Privates ab, haben aber – wenn sie gut sind – immer auch einen moralischen und politischen Stachel. Wer Uwe Johnson gelesen oder The Wire gesehen hat, wird nicht mehr glauben, dass der arme Schlucker, der den Laternenpfahl für die Verbreitung seiner Botschaften braucht, ein Problem für die Gesellschaft ist, sondern darauf achten, wie die Eliten ihre Deutungen durchsetzen.
Unter den Abertausenden meiner unkontrollierten Lektüren bildungsbürgerlicher Klassiker sticht eine Lektüre hervor, die mir nicht das Bücherregal, sondern das Internet bescherte: ein Text von Oscar Wilde, „De Profundis“, vor 120 Jahren geschrieben im Gefängnis, nachdem er wegen seiner Homosexualität aus der Gesellschaft ausgestoßen worden war, bankrott, gedemütigt, verspottet. Irgendein Anonymus hatte ihn Anfang der Nuller Jahre ins Netz geladen, ohne Layout, ohne Verleger, ohne Urheber- und Verwertungsrechte, ohne Vermittlung und Erklärung. Dieser Text ließ sich nicht wegfressen, sondern stellte sich mir entgegen, auf Augenhöhe, und schrie mich an, aus der Tiefe des Netzes, aus der Tiefe der Zeit, aus der Tiefe dessen, was Menschen erfahren und erdulden müssen.
Im Internet schreien heute ziemlich viele Leute herum. Neben Oscar Wilde treten alle möglichen Figuren unserer Tage: Hater, Verrückte, Maskus, Netzfeministinnen, Stalker, Antideutsche, Pegidas, Agenten von Putin, Anhänger Erdogans, Islamisten und Antiislamisten und so weiter und so fort. Sie schreien scheinbar ohne Unterschied und ohne Hierarchie. Diejenigen, die den Schutzraum bürgerlicher Bildung schätzen, haben inzwischen Angst vor der Kommunikation im Internet. Sie fürchten das, was sie als „Mob“ bezeichnen, die Gewalttätigkeit und Rücksichtslosigkeit des „gemeinen Volks“. Sie fürchten, selbst mit Shitstorms, Drohungen und Schmähungen überzogen zu werden, wenn sie sich exponieren. Das Internet ist nicht nur für Spaziergänger, sondern auch für Prügler und Randalierer das geworden, was früher die Straße war.
Es wäre durchaus möglich, die verbale Gewalt im Internet einzudämmen und zu unterscheiden zwischen dem Schläger und dem Geschlagenen, der sich wehrt. Es gibt ziemlich klare Kriterien dafür, was eine Beleidigung oder eine Bedrohung ist und was nicht. Es gibt das Strafrecht, das uns im zivilen Leben einigermaßen erfolgreich hemmt, den Stinkefinger auszufahren und Morddrohungen auszustoßen. Welche Gründe, welche Interessen verhindern, dass die Regeln der Zivilität im Internet nicht durchsetzbar zu sein scheinen? Wie kann es sein, dass irgendwelchen Trollen das Feld überlassen wird? Nicht die Trolle sind Ursache des Problems. Es gibt politische, rechtliche, publizistische und moralische Verantwortlichkeiten, und wo diese nicht richtig wahrgenommen werden, schreien die Menschen.
Es ist auch durchaus nicht zwangsläufig, dass publizistische Angebote im Internet niedrigeren Standards verpflichtet sind als Angebote in Printmedien. Wer für Online-Texte andere Massstäbe hat als für die Texte in der analogen Welt, ist selbst schuld. Ein Online-Text unterscheidet sich von einem analogen Text grundsätzlich doch nur dadurch, dass er für seine Veröffentlichung weniger intermediäre Instanzen braucht und die Möglichkeit der Interaktion mit den Lesern hat. Diese Möglichkeit kann er annehmen oder ausschlagen oder auch hintertreiben. Oft geschieht letzteres. Würden die Kommentarspalten unter Online-Artikeln richtig moderiert und für den ernsthaften Dialog genutzt, wären sie nicht die Müllkippen der Nation.
Wie wird wohl mein Sohn eines Tages durch das Internet wandern? Im bildungsbürgerlichen Bücherregal wartet die Literatur, die von den Wechselspielen zwischen dem oft inadäquaten Agieren in den Zimmern der Macht und den oft inadäquaten Reaktionen der Menschen auf der Straße erzählt. Doch für den Umgang mit den Wechselspielen zwischen dem Digitalen und dem Analogen wird das bildungsbürgerliche Reservoir nicht reichen. Den müssen er und ich uns selbst erarbeiten. Vielleicht kann ich bald wieder von ihm lernen.
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Sehr geehrte Frau Detjen.
Es gibt den leisen und den lauten Schrei.Beides sind wohl Schreie nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Schwesterlichkeit.(frei übersetzt aus dem französischen).
Zumindest Menschen aus dem bildungsbürgerlichen Milieu sollten vertaut sein mit diesen seinerzeit lauten und blutigen Auseinandersetzungen.
Ist das Leben nicht einfach nur Wiederholung?
Der” Mob” hat eine neue Möglichkeit auf sich aufmerksam zu machen.Das Internet.Verbreitet er durch Hasstiraden wahrhaftig angst unter denjenigen, die “den Schutzraum bürgerlicher Bildung schätzen”, und wenn ja warum, aus Sorge, der Schutzraum könne sich auflösen, oder gar, noch nicht in den Genuss diesen Raumes gekommene könnten in ihn eindringen?
Ich glaube die Macht lautstarker, wütender (vielleicht doch nur sich gegen den Kapitalismus wehrender) wird überschätzt oder bewusst hochgespielt. Somit kann die Täter-Opfer- Rolle willkürlich vertauscht werden.
Gerade Bildungsbürgerliche wissen um die Macht der Worte.Deswegen wird Bildung überhaupt angestrebt.
Macht , Wissen und Bildung sind eine für die Menschheit gewinnbringende Errungenschaft, solange sie für sich und nicht gegen andere genutzt werden.Das hat sich bis heute leider nicht realisieren können.
Der Ruf nach Egalite, Fraternite und Liberte wird nie verstummen solange es fühlende Menschen gibt.
Wir können und müssen alle von den Kindern lernen.Sie schreien nicht danach, sondern leben authentisch die Selbstverständlichkeit des Seins.
Einzig und allein falsch verstandener Erziehungs -und Domestizierungs auftrag führen zu Trennung, Ausgrenzung, Tod und Vernichtung(auch unseres geliebten und ungeliebt behandelten Planeten).
Wedet wie die Kinder. Ein großer Auftrag mit immensem Gewinn.
Kinder verbinden durch Kommunikation.Diese Kommunikation müssen Erwachsene sich wieder aneignen.Dann haben auch unsere Kinder und alle Kinder dieser Welt die Möglichkeit selbstbestimmten Lebens, und müssen nicht irgendwann als “arme Schlucker” ihre Botschaft an Laternenpfähle heften.
Dafür wünsche ich uns allen Mut und Durchhaltevermögen.
Herzlichst
Birgit Schlattmann
Ja, das wünsche ich uns auch, liebe Frau Schlattmann. Sie sprechen mir in vieler Hinsicht aus der Seele.
Eine Gesine Crespahl im Geiste hätte das engl. Kellerverlies Johnsons - nicht ohne
zur kleinen Sicherheit sich virtuell-mobile Schutzräume bildungserlebter Jugendjahre – beste Prägung!, wie schön! – mitzunehmen immerhin doch noch in die Realität hinausgewagt?
Man sieht es gerne. Zumal wenn Mutterschaft so wunderbar bereichernd die neuen Ausblicke mit formte, doppelt zu Einblicken und Einschten sich bündelnd?
Im Wintergarten bei Tisch vorhin über einen Bekannten von 65 und dessen rüstige Mutter von 93, evtl. auch beim Kaffee nach Tisch – ob die auch noch so miteinander unterwegs wäre? Aber natürlich waren wir genigt zu folgern, warum denn auch nicht? Denn schließlich könnten das ja auch zwei Erwachsene miteinander reif und liebevoll und klug miteinander erleben, nicht? Sowie weit wie beide eben wollten.
Und wäre gar kein Wagnis gewesen, sondern Freude doch?
Graphitti ist Folie ja, Wandfolie und Kopffolie, so wie jedes, alles außen. Schopenhauer und Thomas Mann würden sagen “… wären Wille und Vorstellung?”
Thomas mann, der nie wie ein Uwe Johnson hätte enden können, Manns Wille wolte es so ” da ist zuviel goethe in mir, zu viel balanciertes aushalten, steinalt werden wollen”, nicht? dabei war ihm goethe auch “ehrsüchtiges Aushalten”, *g*.
Und FAZ vom 17.5.2003 – Johnsoin und der Alkohol – da auch noch eine evtl. Parallele zu Tolstoi, dem enthaltsamen Grafen von der armen Gestalt, von dem seine Frau sagte, sie müsste regelmäßig sieben mal pro Nacht herhalten. Und tagsüber ging er mit jungen, hübschen, ledigen Knaben, die ihn zu Hauf besuchten, im Garten spazieren, überließ ihr alle Arbeit und Sorge, und fabulierte den Jungmännern von Jesus, Glauben, Erlösung und den Tugendmeistern. Und die Emanzipation der Ehefrau bestand darin, in der Wäschekammer ins frischgebügelte – Dienstboten, Schreiben macht reich! – Taschentuch zu beißen, “Mongramm zerstörend” würden wir heute vermutlich sagen.
Nur wessen Monogrammes gewesen wäre, dass hätte die Germanistik (!) leider bis heute nur noch nicht herausfinden können. Und auch die Literatur-Forensiker gingen bis heute noch suchen?
Und schreiende Menschen müssen keine Trolle sein – es kann sich auch um Folteropfern handeln. Grad wie bei Uwe J.? Danke Frau Detjen, danke FAZ.
Es war also von Sofja Andrejewna, verh. 1862–1910, die Rede gewesen, der großen Ehefrau und Geliebten eines wichtigen Lebens? Wir hatten sicherlich geirrt mit der Annahme vom Grafen.
Gesine Cresspahl – strenger Anspruch. (Hamburg #12/1984) Und ohne Genehmigung. Er war so frei.
Es ist eine deutsche Besonderheit, dass im Netz tendentiell die eher Unterbelichteten
unterwegs sind, während die Akademiker ebenso tendenziell das Netz eher meiden. Überall sonst ist es umgekehrt. Bei der in Deutschland so gerne gepflegten Verachtung des angelsächsischen Raumes – aber im englischsprachigen Webspace gibt es deutlich mehr echte Auseinandersetzungen, die nicht im Sich Anschreien enden. Mit aller Härte geführt, aber eben nicht durch Rückzug in die wechselseitigen Schützengräben vermieden. Im deutschsprachigen müsste man danach sehr, sehr lange suchen. Es gibt auch nicht die Vielzahl von “Faktencheck” Websites, die einfach danach fragen, ob ein Argument die behauptete Basis in der Realität hat. Vermisse ich im Deutschen auch.
Fazit: Das deutschsprachige Netz ist für politische oder philosophische Auseinandersetzungen zwischen Erwachsenen der falsche Platz.
Gruss,
Thorsten Haupts
Im angelsächsischen Raum sind die klassischen Printmedien viel früher in Bedrängnis geraten als im deutschsprachigen Raum, wahrscheinlich besteht hier ein Zusammenhang.
Was wäre denn das Fazit aus Ihrem Fazit? Dass Sie und ich hier in einem Kindergarten diskutieren?
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In den faz Blogs ist der Umgangston (ich hoffe, auch durch mich) erträglich geblieben, was auch daran lieg, dass hyperventilierenden Leuten nicht gleich ein (beliebige ad personam Beleidigung) entgegengebrüllt wird, meinen ernstgemeinten Glückwunsch zur Geduld der Blogherrinnen.
Ich wüsste allerdings schon, wie sonst im Netz auf viele der hier verffentlichten Meinungsäusserungen reagiert würde :-). Freie Meinungsäusserung ist ein Konzept, mit dem sich Kontinentaleuropäer historisch gewachsen schwerer tun, als Angelsachsen.
Gruss,
Thorsten Haupts