Ad hoc

Wie Amazon nicht pleite ging

Soeben hat der Onlinehändler Amazon mit seinen jüngsten Zahlen und seinem Gewinnausblick auf das vierte Quartal enttäuscht. Der Aktienkurs sank deutlich, Investitionen für den neuen Tabletcomputer „Kindle Fire” belasten das Ergebnis. Der Angriff auf Apple wird teuer; die Aktionäre müssen dafür bluten. Die Nachrichten erinnerten mich an einen Text, den ich schon im November 2002 geschrieben habe, damals noch als Korrespondent im Silicon Valley.

 „Ich behaupte, spätestens im zweiten Quartal 2003 wird über eine Insolvenz von Amazon spekuliert”, schrieb uns damals ein Leser. Ich versuchte zu klären, ob die Aussage wohl Wahrheit werden würde. Hier der Text von damals; ich glaube, er ist auch mit Blick auf die jüngsten Diskussionen rund um das Geschäftsgebaren von Amazon bis heute interessant:

Könnte der Leser recht haben?

„Könnte der Leser recht haben? Wie würde das zum Anstieg des Aktienkurses des größten Online-Einzelhändlers der Welt passen, dessen Papiere in den vergangenen zwölf Monaten um rund 170 Prozent an Wert gewonnen und sich damit um 230 Prozent besser entwickelt haben als alle Aktien, die im Standard-&-Poor’s-500-Index enthalten sind? Eine Pleite von Amazon könnte vermuten, wer unterstellt, dass das Unternehmen unter seinen langfristigen Verbindlichkeiten von rund 2,26 Milliarden Dollar zusammenbrechen wird. Um die Zinsen auf diese Verbindlichkeiten zu zahlen, muss Amazon in jedem Quartal rund 35 Millionen Dollar an seine Gläubiger überweisen. Wer dann noch glaubt, dass es Amazon zur Zeit nur deshalb vergleichsweise gut geht, weil die Zinsen so niedrig sind, könnte tatsächlich auf den düsteren Gedanken kommen, dass ein Zinsanstieg Amazon sehr schnell das Genick brechen könnte.

Der Börsenwert schien schon vor Jahren zu hoch zu sein

Doch an der Börse wird Amazon (im November 2002, Anmerkung des Autors) mit rund 7,2 Milliarden Dollar bewertet. Das ist mehr als das Doppelte der Marktkapitalisierung, die die beiden marktführenden amerikanischen Buchhandelsketten Borders und Barnes & Noble gemeinsam aufweisen können. Die Amazon-Aktie notiert zum 139fachen des für das laufende Jahr vor außerordentlichen Aufwendungen erwarteten Gewinns. Bei Borders und bei Barnes & Noble liegt dieses Kurs-Gewinn-Verhältnis bei 12.

Beim Vergleich mit Amazon hat sogar das so erfolgreiche Online-Auktionshaus Ebay mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 78 noch eine „billigere” Aktie. Angesichts dieser Situation verblüfft es nicht, daß es an der Börse besonders viele Anleger gibt, die, wenn schon nicht auf einen Konkurs, dann doch auf einen baldigen Kursverfall der Amazon-Aktie spekulieren. Rund 52 Millionen Aktien von Amazon sind zurzeit „leerverkauft”, das heißt, die Papiere wurden von Anlegern zu einem festen Preis auf Termin zum Verkauf gestellt. Die Verkäufer besitzen die Aktien aber gar nicht, sie hoffen nur darauf, die Papiere in der Zukunft zu einem niedrigeren Preis einsammeln zu können, als sie in ihrem Termingeschäft als Verkaufspreis vereinbart haben.

Leerverkäufer am Werk

Es handelt sich also um nichts anderes als um eine Wette auf einen sinkenden Aktienkurs. Bei Amazon sind knapp 20 Prozent der an der Börse gehandelten Aktien leerverkauft, bei Ebay liegt dieser Prozentsatz bei lediglich rund 10 Prozent. Der Pessimismus unseres Lesers wird also von vielen Anlegern geteilt. Andererseits bedeutet das aber auch, dass gerade ein weiterer Kursanstieg von Amazon sehr viele Spekulanten schmerzen kann, geht doch in einem solchen Fall ihre Wette nicht auf. Wenn diese Anleger dann schnell zugreifen müssen, bevor der Kurs der Amazon-Aktie noch weiter steigt, führt das zu um so heftigeren Kursausschlägen nach oben. Die Amazon-Aktie wird somit ganz offensichtlich von vielen Emotionen begleitet, was letztlich den Blick auf die Kernfrage verstellt, ob das Unternehmen angesichts seiner Bilanzstruktur langfristig erfolgreich sein kann. Und dabei gibt es durchaus Hoffnungsschimmer.

Der Umsatz von Amazon ist in den ersten neun Monaten 2002 um ein Viertel gestiegen, der Verlust um 73 Prozent gesunken. Vor zwei Jahren hat Amazon noch 10 Cent eines jeden Umsatzdollars in den Aufbau von Vertriebszentren und die Programmierung seiner Internetseite investiert. Inzwischen liegt diese Zahl unter einem Cent und beträgt damit ein Viertel dessen, was Wal-Mart, der größte Einzelhändler der Welt, für seine Investitionen ausgeben muss. Im ersten Halbjahr 2002 hat Amazon 4 Prozent seines Umsatzes in die Werbung gesteckt, drei Jahre zuvor hatte dieser Anteil noch bei 12 Prozent gelegen. Amazon-Gründer und Vorstandsvorsitzender Jeff Bezos betont unterdessen seit dem Börsengang des Unternehmens, dass die wichtigste Zahl zur Beurteilung des langfristigen Bestands seines Unternehmens der Mittelzufluß (Cash-flow) sei. „Das ist der einzige Maßstab dessen, was bei uns wirklich passiert”, sagt er. Zudem sei der Cash-flow leicht verständlich: „Du nimmst einfach dein Bankguthaben am Jahresende und ziehst es vom Bankguthaben am Jahresanfang ab”, erklärt Bezos den Kern der tatsächlich etwas komplizierteren Kennzahl.

Fester Glaube an den Cash-flow

Bezos glaubt, dass ein positiver Cash-flow Amazon helfen wird, alle Belastungen angesichts seiner hohen Schuldenlast zu überstehen. Tatsächlich war der Cash-flow bei Amazon im vergangenen Quartal mit rund 57 Millionen Dollar positiv. Für kurzfristige Sicherheit sorgt der Bestand an liquiden Mitteln von zurzeit rund 865 Millionen Dollar. Die erste große Tranche seiner langfristigen Schulden mit einem Zinssatz von 4,75 Prozent muss Amazon wiederum erst im Jahr 2008 refinanzieren, kurzfristige Zinsschwankungen sind daher nicht besonders interessant. Es ist damit höchst unwahrscheinlich, dass im kommenden Jahr über die Insolvenz von Amazon spekuliert werden wird. …”

So weit, so gut. Der Leser hatte sich in einem Ausmaß getäuscht, das im Rückblick beinahe fassungslos macht:  Denn heute hat Amazon einen Börsenwert von gut 92 Milliarden Dollar und nicht von 7,2 Milliarden Dollar wie damals, als die Antwort geschrieben wurde. Man kann Bezos also noch nicht einmal vorwerfen, langfristig seinen Aktionären geschadet zu haben (nur die Leerverkäufer hatten keinen Spaß). Und für gesunden Wettbewerb auf dem Tabletmarkt sorgt er nun allemal.

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