Ad hoc

Alternde Gesellschaft: Technische Helfer sollen das Pflegepersonal ersetzen

Wie wollen wir im Alter leben? Diese Frage wird immer bedeutender: Denn Schätzungen zufolge wird jeder dritte Deutsche im Jahr 2050 älter als 65 Jahre sein. Und ein Teil der Senioren verfügt dann über eine nicht unerhebliche Kaufkraft. Fachleute sprechen daher schon vom „Silbermarkt” – und sehen vor allem für Unternehmen aus den Branchen Tourismus, Wellness, Kosmetik, Entertainment und Wohnungsbau neue Absatzmärkte. Allerdings wird davor gewarnt, die Produkte und Dienstleistungen mit dem Aufdruck „seniorengerecht” zu versehen. Dies schrecke betagte Käufer ab.

Neben Produkten für gesunde, unternehmungslustige Ältere sind aber auch Dienstleistungen für hilfsbedürftige Senioren notwendig, die durch Altersgebrechen wie zum Beispiel Gehbehinderung, Demenz oder Unfall in ihrer Lebensführung zwar beeinträchtigt, aber immer noch fit genug sind, um in den eigenen vier Wänden zu leben. Allerdings brauchen sie hierfür Unterstützung, die modernste Technik verspricht. Seit ein paar Jahren wird im deutschsprachigen Raum deshalb an sogenannten „Ambient Assisted Living” (AAL)-Lösungen geforscht. Darunter fallen etwa Service-Roboter, kommunikationstechnische Geräte oder auch telemedizinische Sicherheits-Warnsysteme und Sensor-Instrumente zur Messung von Vitalfunktionen, die das häusliche Leben sicherer und bequemer gestalten sollen.

Noch fehlt es an tragfähigen Geschäftsmodellen

Das Ziel: Augen, Ohren und Hände von Pflegepersonal werden so durch technische Helfer ersetzt. Zudem bieten AAL-Lösungen Informationen über lokale Veranstaltungen an oder sind als Bestell- und Einkaufsservice konzipiert. Nicht selten dient der speziell aufgerüstete Fernseher als „Schaltzentrale”. Doch trotz staatlicher Förderung diverser Forschungsprojekte in zweistelliger Millionenhöhe steckt der Markt noch in den Kinderschuhen. „Wohnungsbauunternehmen entdecken nun endlich AAL und statten immer mehr Wohnungen mit altersgerechter Technik aus”, umschreibt die Gerontologin Birgid Eberhardt vom Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik e.V. (VDE) die Situation. Doch es fehlt noch immer an tragfähigen Geschäftsmodellen, die kritische Masse an Wohnungen mit altersgerechter IT-Infrastruktur wird oft einfach nicht erreicht. „Für Dienstleister wie etwa lokale Lieferservices wird es erst interessant, wenn mehr als 500 Wohneinheiten mit AAL-Systemen in einem Quartier ausgestattet sind”, sagt Lothar Schöpe, der am Dortmunder Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik verschiedene Anwendungen erforscht.

In einzelnen Pflegeheimen oder Einrichtungen für betreutes Wohnen werde die Technik zwar schon eingesetzt, doch handelt es sich um Pilotprojekte. Der Durchbruch zum flächendeckenden Einsatz von AAL lässt also noch auf sich warten. Vor allem die dringend nötige Vernetzung zwischen den vielen Einzelanbietern von Technikkomponenten und den entsprechenden Dienstleistern müsse noch optimiert werden, heißt es. Besonders für dieses Jahr zieht Eberhardt aber eine positive Bilanz: „Immer mehr Bürger, Senioren- und Sozialverbände fragen nach AAL-Lösungen und interessieren sich dafür.”

Das zeigt auch eine neue, repräsentative Umfrage der Deutschen Telekom und des F.A.Z.-Instituts, deren Ergebnisse dieser Zeitung vorab vorliegen. Die Studie hat untersucht, mit welchen Erwartungen die Menschen ab 45 Jahren in Deutschland ihrem eigenen Lebensabend entgegensehen. Hierfür wurden im August dieses Jahres tausend in Privathaushalten lebende deutschsprachige Bürger zu ihren Einstellungen und Erwartungen mit Blick auf das Alter sowie das technikunterstützte Leben mit Assistenzsystemen befragt.

Das Ergebnis: Die große Mehrheit der Menschen wünscht sich, im Alter weiterhin selbständig in den eigenen vier Wänden leben zu können. Das sagen acht von zehn Befragten. Bei den Menschen, die älter als 70 Jahre sind, ist dieser Anteil mit 90 Prozent sogar noch höher. Das gemeinschaftliche Wohnen mit Freunden oder Bekannten wird nur von 14 Prozent der Befragten als bevorzugte Alterswohnform genannt. Mit steigendem Bildungsgrad wächst aber die Bereitschaft, in eine Alterswohngemeinschaft einzuziehen. Jeder fünfte Abiturient ist dazu bereit. Nur eine Minderheit von 6 Prozent der Bevölkerung möchte in einer speziellen Alters- oder Pflegeeinrichtung mit Rund-um-die-Uhr-Betreuung untergebracht werden.

Hohe Zustimmung

Vor diesem Hintergrund finden die AAL-Assistenzsysteme in der Bevölkerung viel Zustimmung. Am sinnvollsten erscheint den Befragten die Einrichtung eines Hausnotrufsystems, über das bei Unfällen oder Gesundheitsproblemen schnell und gezielt Hilfe gerufen werden kann. Alarmsysteme für den Wohnbereich, wie Rauch-, Wasser- oder Einbruchsmelder, bewerten neun von zehn Befragten als nützlich. Ein Dienst zur Sturzüberwachung, der mit Hilfe eines Sensors erkennt, wenn der Bewohner länger reglos ist, und automatisch Hilfe holt, überzeugt 84 Prozent der Befragten.

Für diese Systeme besteht derzeit auch die höchste Kaufbereitschaft. Insbesondere die unter 60 Jahre alten Menschen begrüßen außerdem ein mobiles Notrufsystem, das im Bedarfsfall auch unterwegs, beispielsweise beim Sport, mitgeführt werden kann. Medizinische Kontrollen für zu Hause wünschen sich 67 Prozent der Befragten. Die einfach zu bedienenden Geräte messen wichtige Vitalwerte wie Blutdruck, -zucker oder Körpertemperatur. Bei einer Verschlechterung der Werte werden automatisch Hilfsmaßnahmen eingeleitet.

Allerdings wüssten die potentiellen Kunden häufig nicht, bei welchen Anbietern sie Sicherheits- oder Sensortechnik für die eigenen vier Wände finden können, wird beklagt. Hinzu kommt: Der Einsatz von altersgerechter Informationstechnik im häuslichen Umfeld ist nicht unumstritten. So wird befürchtet, dass menschliche Nähe und Fürsorge durch Pflegeroboter, telemedizinische Überwachungssysteme oder Sensortechnik abgelöst werden und der pflegebedürftige Mensch mit seinem Bedürfnis nach Zuneigung, persönlichem Kontakt und Privatsphäre auf der Strecke bleibt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung strebt daher eine ethische Prüfung der einsatzbereiten AAL-Techniken an.

Unter Mitarbeit von Uta Bittner.

 

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