Der Chef des Gase- und Energiekonzerns Linde hat recht, und er muss das so auch einmal sagen dürfen: Wenn der Euro auseinanderfiele, könnte Deutschland den Schock verkraften, und die Wirtschaft wäre nach einigen Jahren relativ betrachtet sogar wettbewerbsfähiger. Natürlich wäre ein solcher Schock alles andere als wünschenswert, und er ist auch nicht wahrscheinlich. Aber es wäre für die Diskussion über die Zukunft des Euro – und die deutsche Verhandlungsposition in Brüssel – hilfreich, würde dieses Szenario von den Politikern nicht tabuisiert. Denn der Druck auf die Euro-Krisenländer, ihre Bürokratie und Arbeitsmärkte zu modernisieren, die Steuerhinterziehung zu bekämpfen und das Rentenalter zu erhöhen, muss auch in den nächsten Monaten und Jahren unbedingt aufrechterhalten werden, soll die Krise bewältigt werden. Linde-Chef Wolfgang Reitzle ist nicht naiv. Er weiß, dass Deutschland, wenn es in der Welt weiterhin relevant sein will, alle Anstrengungen unternehmen muss, um den Euro zu retten. Er hofft darauf, dass Italien & Co ihre Schwierigkeiten anpacken und lösen. Er sagt den Deutschen aber auch: Erpressen lassen muss sich das Land nicht.
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Wolfgang Reitzle, der Vorstandsvorsitzende des Münchner Gase- und Energieunternehmens Linde, ist nicht der Meinung, dass die Gemeinschaftswährung um jeden Preis gerettet werden muss. Der Linde-Chef und Aufsichtsratsvorsitzende des Automobilzulieferers Continental glaubt zwar, dass der Euro nicht auseinanderbrechen wird. Er fürchtet aber, dass der Reformwille in den Krisenländern nachlässt, wenn am Ende doch immer die Europäische Zentralbank (EZB) eingreift. Falls es jedoch nicht gelinge, die Krisenländer zu disziplinieren, müsse Deutschland aus dem Euroraum austreten, sagte Reitzle dem „Spiegel“.
Dies würde dann zwar zu einer Aufwertung „der D-Mark, des Euro-Nord, oder welche Währung wir dann auch hätten“, führen. Deshalb würde in den ersten Jahren die Arbeitslosigkeit steigen, weil der Export durch die Aufwertung und damit die Verteuerung der deutschen Produkte stark sinke. Dann würde der Druck zunehmen, noch wettbewerbsfähiger zu werden. Die deutsche Wirtschaft könnte diesen Schock aber nach einigen Jahren überwunden haben, glaubt Reitzle: „Schon fünf Jahre später könnte Deutschland im Vergleich zu den asiatischen Wettbewerbern noch stärker dastehen.“ Das gesamte Szenario sei für ihn nicht wünschenswert, dürfe aber auch kein Tabu sein.
Die derzeitigen Ankäufe von Staatsanleihen durch die EZB hält Reitzle jedenfalls für falsch, doch gebe es keine andere Möglichkeit, wenn man verhindern wolle, dass die Währungsunion auseinanderbreche. Zudem sei das Problem tatsächlich noch viel größer, da auch die Ungleichgewichte im Zahlungsverkehr der Notenbanken des EZB-Systems (Target 2-Salden) wüchsen. Das bedeute, dass die Handelsbilanzdefizite der Krisenländer von der Bundesbank garantiert würden – auf die Deutschen entfalle derzeit ein Volumen von 550 Milliarden Euro: „Damit finanzieren wir deutsche Automobile und Werkzeugmaschinen, die nach Spanien oder Italien geliefert werden, im Prinzip selbst.“ Zudem gingen in diese Salden rund 100 Milliarden Euro ein, die die Italiener in den vergangenen Monaten aus ihrem Land abgezogen und zum Beispiel in Immobilien in Berlin angelegt haben.
Griechenland hat keine Chance mehr, in der Währungsunion zu bleiben
Für Griechenland sieht Reitzle ohnehin keine Chancen mehr, in der Währungsunion zu bleiben. Griechenland müsse mittelfristig austreten. Die Kapitalmärkte hätten das Thema längst abgehakt. Die Schulden Athens werden nach der Überzeugung des Linde-Chefs nicht zu 50 oder 70 Prozent, sondern zu 100 Prozent abgeschrieben werden müssen.
Mit seinen Aussagen hebt sich Reitzle stark von anderen Spitzenmanagern ab. Im Sommer hatten 50 von ihnen Anzeigen unter dem Titel „Der Euro ist notwendig“ geschaltet. Darin machten sie auf die Vorteile des Euro aufmerksam und forderten Hilfen für die Krisenländer. Linde selbst macht aber auch nur noch rund ein Drittel seines Umsatzes in Europa.