Wir sind alle Dortmunder Jungs: Da sind die alten Schulfreunde. Sie sind in Dortmund geblieben, als Arzt, als Kommissar bei der Polizei – und, das „Jungs” gilt geschlechterübergreifend, als Mathematikerin bei einer Versicherung. Es sind vielbeschäftigte Menschen. Wenn man selbst nicht mehr in der Heimat wohnt, sieht man sie nicht mehr oft. Wenn man sich aber treffen will, weiß man wo: Auf der Südtribüne im Stadion, zuverlässig seit Jahren, jedes zweite Wochenende auf den alten Plätzen. Das ist zwar eine Stehplatztribüne, die in dem riesigen Stadion für sich allein schon 25.000 Zuschauern Platz bietet. Aber in der Masse kennt jeder seinen Platz, was für den Außenstehenden unglaublich scheint, der aus der Ferne auf die „Gelbe Wand” blickt. Aber das war schon immer so. Man kennt sich, kann sich im Stadion treffen; niemand muss sich eigens verabreden. Der Dortmunder steht, wo er steht. Die Dauerkarten für diese Plätze gibt man nicht mehr her. Man müsste schon nach Amerika versetzt werden, um überhaupt auf einen solchen Gedanken zu kommen.
Und da ist der sympathische, inzwischen nicht mehr ganz junge Verwandte aus der Familie, der, so lange es für ihn gesundheitlich ging, nicht nur kein Heimspiel, sondern auch kein erreichbares Auswärtsspiel der Mannschaft ausgelassen hat. Onkel Horst hat für eine Hochzeitsfeier an Heimspiel-Tagen überhaupt kein Verständnis und gibt um 17.15 Uhr, wenn die Ergebnisse durchgesagt werden, ganz gewiss dem Radio den Vorzug vor seichterer gesellschaftlicher Konversation. Natürlich ist da auch noch der frühere Kollege. Er hat das Haus schon vor Jahren verlassen, arbeitet jetzt für eine Nachrichtenagentur. Aber er ist ein echter Dortmund-Fan. Gehen Spiele besonders gut aus, kommt schon einmal eine SMS, in der die Begeisterung keine Grenzen kennt, oder auch die Niedergeschlagenheit, wenn es einmal nicht mehr so gut läuft. Das aber kam in der jüngeren Zeit nicht mehr so häufig vor.
Da ist Norbert Dickel, der Stadionsprecher; er ist aber viel mehr als das. Er ist der letzte Pokalheld von Berlin, vom Pokalsieg 1989, der für den folgenden Aufschwung des Vereins sehr wichtig war. Kurz danach wurde Dickel Sportinvalide und Kultfigur. Er ist sympathisch, engagiert sich karitativ. Sein Knie will nicht mehr so recht. An Joggen ist nicht zu denken, geschweige denn an Fußballspielen. Aber die Stimme überschlägt sich für die Borussia, wenn er die Spiele im Internet-Radio moderiert oder im Stadion die Aufstellung verkündet. In der Redaktion hat er ein Autogramm hinterlassen. Es hat einen Ehrenplatz.
Auf dem Platz zählt die Leistung – nicht nur beim Fußball
Da ist der intelligente Banker, den man vor Jahren auf einer Abendveranstaltung im Frankfurter Senckenberg-Museum kennengelernt hat. Die Ausstellung war interessant. Interessanter aber noch war die Leidensgeschichte des Bankers: Der Mann gehört zu den Erstzeichnern der BVB-Aktie beim Börsengang 2000. Das Papier kam damals zu einem Kurs von 11 Euro. Zum Zeitpunkt des Treffens notierte die Aktie zu weniger als 1 Euro. Aber man verabschiedete sich hoffnungsvoll. Und da ist der Finanzvorstand eines Tec-Dax-Unternehmens, der schon beim ersten Kennenlernen sehr sympathisch ist. Beim Abschied offenbart er sich: Er kommt aus der Gegend, ist Dortmund-Fan, sein Leben lang. Für die nächsten Spiele wünscht man sich viel Glück, was sonst?
Es sind eben alles Dortmunder Jungs, auch wenn längst nicht alle räumlich ihrer Heimat treu geblieben sind, nicht treu bleiben konnten. Denn wirtschaftlich hat sich seit den gemeinsamen Schulzeiten viel verändert. Nicht immer zum Guten, jedenfalls in den ersten Jahren nicht. Dortmunder brauchen einen langen Atem: Auf dem Fußballplatz unter der Trainingsregie von Jürgen Klopp sowieso, als Erstzeichner der Borussia-Dortmund-Aktie, aber eben auch grundsätzlich, mit Blick auf die Wirtschaft in ihrer Stadt. Die ist längst nicht mehr von Kohle und Stahl dominiert. Die letzte Zeche, Minister Stein im Stadtteil Eving, schloss schon 1987. Die Hoesch-Stahlwerke sind demontiert. Nur der alte Gasometer ziert noch die Skyline von Dortmund, weithin für jeden sichtbar, der sich von Süden der Stadt mit dem Auto nähert.
Heute ist er, längst außer Dienst gestellt, Teil der „Route der Industriekultur” und fast das Letzte, was von Hoesch in Dortmund noch übrig ist. Das Unternehmen ist weg, es gehört seit Jahren zu Thyssen-Krupp. Ein paar Sachen macht der Konzern hier noch, aber einem Vergleich mit früher hält das nicht mehr stand. Früher, das war, als im Winterhalbjahr der stockfinstere Himmel am Morgen plötzlich warm-orange leuchtete, nämlich beim Hochofen-Abstich in der Hermannshütte in Hörde. Früher, das war, als man in der Schule lernte, Dortmund sei die Bierstadt mit dem größten Hektoliter-Ausstoß hinter der amerikanischen Stadt Milwaukee. Heute gibt es in Dortmund nur noch eine große Braustätte. Dort gehört alles Oetker. Aus Bielefeld. An Brau und Brunnen, einst der größte deutsche Getränkekonzern mit Marken wie Union, Brinkhoff’s No. 1, Apollinaris oder Jever erinnert sich kaum noch jemand. Dabei ist man doch noch gar nicht so alt.
Neue Industriearbeitsplätze sind seither nur wenige entstanden: Nach jahrelangem Stillstand auf einer der Hoesch-Industriebrachen wird jetzt immerhin ein riesiger künstlicher See, der „Phönix-See”, mit Wasser befüllt. Und im Schatten der Universität haben sich einige bemerkenswerte Technologieunternehmen angesiedelt. Mehr sollen es werden, die Schlagworte Mikro- und Nanotechnologie fallen in Dortmund seit langem gern und häufig. Und Software wird, natürlich, geschmiedet. Aber wie lange wird an diesem Strukturwandel schon gearbeitet? Warum nur dauert alles so lange? Dabei ist der wahre Dortmunder vor allem eines nicht: arbeitsscheu. Daran kann es also nicht liegen. Auf dem Platz zählt die Leistung. Womit wir wieder bei der Borussia wären.
Da ist schließlich noch das Aufsichtsratsmitglied der Borussia Dortmund GmbH & Co. KGaA, zugleich Kommunikationschef des in Essen ansässigen Hauptsponsors Evonik, der aus dem Teil der ehemaligen Ruhrkohle AG hervorgegangen ist, der mit dem Abbau von Kohle in Zechen schon lange nichts mehr zu tun hat. Wie viele andere nutzt er das Stadion als Kontaktbörse. Der börsennotierte Verein wird durch das Sponsoring so auch zu einem Imageträger für ein Unternehmen aus dem Ruhrgebiet, das möglicherweise bald selbst um Aktionäre werben wird. Aber der Mann von Evonik ist eben auch Fan. Er berichtet von den leuchtenden Augen in den Aufsichtsratssitzungen, wenn es um die Neuverpflichtungen für die neue Saison geht. In dem Gremium sitzen mit ihm so gestandene Menschen wie der ehemalige Bundesfinanzminister und Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Peer Steinbrück, oder der einstige große Hoffnungsträger der CDU, Friedrich Merz. Das sind eigentlich ganz kühle Typen. Aber wenn man so hört, wie sie reagieren, wenn Trainer Klopp über mögliche Erfolge durch neu zu verpflichtende Spieler referiert, möchte man ihnen zurufen: Bitte nur nicht übermütig werden. Denn das waren die Vereinsoberen in Dortmund ja schon einmal. Das führte in die Beinahe-Insolvenz im Jahr 2005.
Eine Aktie im Höhenflug, aber auf niedrigem Niveau
Auch deshalb hat ein Kursplus der vergangenen zwei Jahre die BVB-Aktie gerade mal auf die bescheidene Höhe inzwischen wieder unter 2,50 Euro zurückgeführt. Es ist, wenn man so will, eine Aktie auf volksnahem Kursniveau. Für die Aktie und das Unternehmen Borussia Dortmund sprechen nach der Ansicht von Analysten auch harte Fakten, nicht zuletzt die hohen Zuschauerzahlen und das „unglaubliche Merchandising-Potential”. Tatsächlich dürfte in der Marke BVB und ihrem zugehörigen „Claim”, dem Werbespruch „Echte Liebe”, noch erheblich mehr wirtschaftliches Potential stecken. Doch bei allen Erfolgen: Schulden hat der Verein noch immer reichlich. Wer neu verpflichtet wird, muss finanziell und menschlich zu dem Team passen, das seinen Erfolg einer funktionierenden Einheit, eines überragenden Kollektivs, zu verdanken hat – einer Formel, die in der Region, die früher „Kohlenpott” hieß, besonders gut ankommt. Für Trainer Klopp und den Manager und ehemaligen BVB-Spieler Michael Zorc wird es die wohl größte Aufgabe bleiben, die Statik des in den vergangenen beiden Spielzeiten mit Meisterschaften und Double so gut austarierten Gefüges BVB nicht zu zerstören und die Mannschaft gleichwohl besser auf die Anforderungen der Champions League einzustellen.
So gesehen ist es noch ein weiter Weg zu altem Glanz. Das gilt für die Aktie, für den Verein, aber auch für die Stadt. Das neue Dortmund werden dann vielleicht die Kinder sehen, die den Fußball längst als familienfreundliches Großereignis kennengelernt haben, die gegen Schalke in keine Schlacht mehr ziehen und viel früher im Stadion waren als man selbst. Es sind die Kinder, die nur ein großes Neubaugebiet sehen, wo der Vater noch an ein altes Stahlwerk denkt. So wird Dortmund nach längerer Durststrecke nicht nur einmal wieder Deutscher Meister. Auch die Stadt verändert sich, langsam, aber stetig, zum positiven. Viele Fortschritte sind heute erkennbarer als noch zur jüngsten Meisterschaft im Jahr 2002. Nur eines verändert sich nicht. Nein, es wird tatsächlich sogar immer schöner, weil es von Jahr zu Jahr selbstverständlicher wird: Die ganze Stadt dreht sich in den Gesprächen und Gedanken ihrer Bewohner in einer Form um das Stadion und den Verein, wie man es sich in München, Hamburg und erst recht Frankfurt nicht vorstellen kann.
Um zugleich Missverständnissen über die Schönheit der Stadt vorzubeugen: Es gibt zwar viel mehr Bäume in Dortmund, als mancher denkt. Aber in den Himmel werden sie nicht wachsen. Das weiß hier jeder, auch wenn die nüchternen Menschen aus der Region wegen ihrer Borussia derzeit einmal wieder siegestrunken sind.
(Ich bin gebürtiger Dortmunder, ehemaliger Dauerkarteninhaber und BVB-Aktionär. Der Text ist zur Meisterschaft 2011 erschienen, das erste Double der Vereinsgeschichte schien mir eine leicht aktualisierte Wiederholung an dieser Stelle wert zu sein.)