Rund 200 Menschen waren im Publikum. Angehende Abiturienten die meisten, junge Menschen, voller Optimismus, Lebensfreude und mit vielen Zukunftsplänen. Jeder hatte zwei Stimmkärtchen bekommen, eines, um Zustimmung zu signalisieren. Ein anderes, um Ablehnung kundzutun. Um den Umgang mit den Karten zu üben, stellte der Moderator eine Eingangsfrage: ob es am Ende der Veranstaltung noch regnen werde, fragte er, halb im Spaß, halb im Ernst. Tatsächlich regnete es in diesem Moment in Strömen, und nur ganz wenige der Anwesenden glaubten, dass das zwei Stunden später anders sein könnte. Es ist der typische deutsche Alltagspessimismus.
Irgendwann zwischen 2008 und 2009, als die Finanz- und Bankenkrise ihren Höhepunkt erreichte, war in der Redaktion ein hoher deutscher Gewerkschafter zu Gast. Er stand kurz vor seiner Rente, besaß also eine gehörige Portion Lebenserfahrung. Und er hatte eine interessante Beobachtung gemacht: Eigentlich seien die Deutschen ja immer viel pessimistischer als nötig. Inmitten der damaligen Krise aber waren sie viel optimistischer, als man es angesichts der zu jener Zeit prekären Lage der Wirtschaft vermutet hätte, hatte er verblüfft festgestellt.
Die Deutschen behalten recht
Nun, die Deutschen sollten recht behalten: Die Kurzarbeit ersparte vor vier Jahren Arbeitslosigkeit, die Abwrackprämie trieb die Menschen in die Autohäuser, und im Zweifel wurde das private Girokonto bei der Commerzbank staatlich gerettet. Es ging nicht schlecht. Und es wurde besser. Jetzt, rund vier Jahre später, ist das Bild aber wieder so, wie es eigentlich immer war: Nicht nur die Schüler in Nagold bei Stuttgart erwarten anhaltenden Regen. Die meisten Menschen glauben inzwischen, dass die Staatsschuldenkrise und damit der Euro zu einem großen Problem geworden sind.
Die jüngsten Rettungsbeschlüsse aus Brüssel haben der Bundeskanzlerin Angela Merkel jedenfalls eine schlechte Presse eingebracht. Die Menschen verstehen nicht mehr, warum wann welcher Rettungsschirm aufgestockt wird, einen anderen ablöst und für welche Zwecke eingesetzt werden soll. In ihrer Wahrnehmung regnet es rein, vor allem auf ihre Ersparnisse. Dass Merkels Zustimmungsraten dennoch recht hoch sind, dürfte mit der Bewunderung für ihre Ausdauer und der Angst vor möglichen Alternativen zu ihr zusammenhängen.
Aber nicht nur die Deutschen sind sauer. Auch viele Franzosen sind von der Rettungspolitik ihres neuen Präsidenten nicht begeistert. Alain Caparros zum Beispiel, der Chef des Handelskonzerns Rewe, hat sich nach dem Wahlsieg François Hollandes sogar erkundigt, wie man die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten könne. Ihn hatte es geärgert, wie Hollande im Wahlkampf gegen die Stärken Deutschlands gewettert hat. Denn der seit vielen Jahren mit seiner Familie in Düsseldorf lebende Caparros mag seine neue Heimat: Er bewundert Disziplin, Organisationen und Sozialkompetenz.
Zurück nach Nagold
Kehren wir deshalb zu den Schülern in Nagold zurück. Sie trieb ohnehin nicht der Euro um, sondern das Urheberrecht. Denn kurz darauf sollte im Europäischen Parlament über das Handelsabkommen Acta abgestimmt werden. Die Haltung der Schüler war klar: Sie lehnten (so wie später die Abgeordneten) das Abkommen rundheraus ab. Erschreckend war vor allem, dass ein knappes Drittel der anwesenden Schüler schon Bekanntschaft mit der Abmahnindustrie gemacht hatte: Offenbar hatten sie illegal Musik aus dem Netz geladen, und mit der Post war eine Rechnung gekommen, die mehrere Tausend Euro erreichen kann. Zugleich hielten aber praktisch alle von ihnen Urheberrechte für schützenswert. Darauf muss die Politik schnell eine Antwort finden. Denn wenn Abmahnungen zu einem Massenphänomen geworden sind, ist das Urheberrecht ernsthaft in Gefahr.
Sicher waren sich die Abiturienten in einem Punkt: Nationalstaaten werden kaum in der Lage sein, diese Probleme zu lösen. Dazu bedürfe es einer internationalen Koordinierung, war die Meinung der breiten Mehrheit. An dieser Stelle hat das Urheberrecht in Zeiten des Massenphänomens Internet dann plötzlich viel mit dem Euro zu tun. Denn auch hier dürfte es kaum die Lösung sein, sich allein von nationalen Egoismen leiten zu lassen.
Doch wollen wir zum Beginn der Sommerferien lieber optimistischer sein, als es der Lage entspricht. Übrigens hat es in Nagold am Ende der Veranstaltung dann doch aufgehört zu regnen.