Ad hoc

Mit offenen Augen durch Davos

Der italienische Tenor Andrea Bocelli hat recht. Menschen können nur dann glücklich sein, wenn sie kreativ sind. Insofern ist die Zeit auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, das Bocelli in dieser Woche eröffnet hat, eine ganz besonders schöne. Selten hat man die Möglichkeit, in so kurzer Zeit so kreativ und zugleich produktiv zu sein wie hier. Und aller Kritik an dem Treffen in den Bergen zum Trotz hat man das Gefühl, dass auch viele andere Teilnehmer der Konferenz hier zu kreativen Ideen inspiriert werden – nur wird manches dann doch allzu häufig etwas zu viel.

Ein typischer Tag in Davos sieht in etwa so aus: Man erfährt zwischen 7 Uhr am Morgen und 24 Uhr am Abend vom ukrainischen Präsidenten Poroschenko, der fließend Englisch spricht, aus seiner Sicht alles über diesen furchtbaren Konflikt mit Russland. Vom italienischen Ministerpräsidenten Renzi ist kurz danach seine Meinung zur Wirtschaftspolitik in Italien zu hören, vom türkischen Ministerpräsidenten manches über die Türkei und ihren Plan für die Präsidentschaft der G 20. Vom amerikanischen Mobilfunkausrüster Qualcomm gibt es Erhellendes über den Mobilfunk von morgen, von diversen Vorstandsvorsitzenden von Energieunternehmen ihre Meinung zur Energieversorgung. IT-Spezialisten wiederum berichten danach noch schnell alles über die Welt der Arbeit in der digitalen Zukunft. Das ist faszinierend und – wie man schon an der reinen Aufzählung merkt – enervierend zugleich. Vergleichbares gibt es gewiss kein zweites Mal auf der Welt.

Gut ist es, dass man währenddessen wenigstens nicht dazukommt, Geld auszugeben. Einen Supermarkt für normale Leute gibt es in der Nähe des Konferenzzentrums sowieso nicht. Und in den Hotels reicht schon ein kurzer Blick auf die Karte, damit Hunger oder Durst schlagartig vergehen. Das gilt erst recht, wenn man den Blick auf die etwas exklusiveren Angebote richtet. Denn für einen Johnny Walker Blue im Grandhotel Belvédère zum Beispiel, der Adresse unter den Forumsteilnehmern für abendliche Plaudereien schlechthin, muss man nun rund 36 Euro zahlen. Und im Hotel Seehof kostet eine Flasche der Champagnermarke Dom Pérignon von 2004 nun umgerechnet rund 350 Euro. Andererseits: Was ist das schon angesichts von Hotelzimmern, die viele der Teilnehmer 1000 Euro und mehr die Nacht kosten?

Davos beweist: Kreativität kann einem lieb und auch sehr teuer sein – zwischen dem, worum es in Davos eigentlich gehen soll (Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich zum Beispiel), und dem, was in der Woche des Forums den Tag in der Stadt in den Schweizer Bergen bestimmt, gibt es inzwischen ein zu krasses Missverhältnis. Einmal abgesehen davon, dass über die Zukunft einer hoffentlich besseren Welt unter den Delegierten hauptsächlich Männer diskutieren. Nun schreibt diese Zeilen zwar auch ein Mann, aber die Verteilung zwischen Männern und Frauen unter den Teilnehmern fühlt sich einfach falsch an – allen regelmäßigen Besuchen von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Davos zum Trotz.

Was war besonders beeindruckend? Gewiss der schon erwähnte Besuch des ukrainischen Präsidenten angesichts des Konflikts in Russland. Würden die Menschen in den umkämpften Gebieten sehen, in welchem Umfeld in Davos über ihre bedrohliche Lage diskutiert wurde, würden sie sich die Augen reiben – so wie der Betrachter über die angsteinflößende Statur des einen oder anderen Leibwächters von Poroschenko. Der Präsident redet von der Lage ein wenig wie der sehr westlich orientierte Geschäftsmann, der er ja auch war. Und die Männer hinter ihm zeigen jederzeit, dass es hier um einen Präsidenten geht, der ein Land in einer Art Krieg führt. „Die Zeit arbeitet gegen Putin, weil die humanitäre Situation desaströs ist“, spricht sich Poroschenko selbst Mut zu. Und: „Niemand unterstützt Putin im Donbass.“

Man muss nicht alles glauben in Davos. Aber es ist spannend, zuzuhören, Punkte miteinander zu verbinden, sich eigene Gedanken zu machen, während draußen die Wechselkurse Kapriolen schlagen. Und wenn der blinde Andrea Bocelli dazu singt, mahnt das umso mehr dazu, die eigenen Augen zu benutzen – noch bevor man allzu kreativ wird.

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