Es ist das Jahr, in dem Pierre Brice gestorben ist: Winnetou ist tot. Und doch lebt Winnetou jeden Tag; die Nachfolger von Brice in der Rolle des Häuptlings der Apachen reiten gerade jeden Tag durch den Open-Air-Festspielsommer, ganz besonders in Bad Segeberg und im sauerländischen Elspe. Hier wie dort ist einst auch Brice aufgetreten. In beiden Fällen platzte die Nachricht seines Todes in die Proben für das aktuelle Stück. Mit dem Gaststar Brice haben seinerzeit sowohl Elspe als auch Bad Segeberg einen großen Aufschwung bei den Besucherzahlen erlebt, aber vor allem im Sauerland verfolgt man inzwischen ein anderes Konzept. Einen Gaststar suchen die Besucher dort in der diesjährigen Inszenierung von „Der Schatz im Silbersee“ vergeblich. Dennoch ist Jochen Bludau, der Mann, auf den in Elspe in Sachen Karl May jeder hört, zuversichtlich, die Marke von 200 000 Besuchern auch in diesem Jahr wieder zu erreichen.
Bludau ist zudem der Beweis dafür, dass es bei Karl May nicht nur auf Winnetou, sondern auch auf Old Shatterhand ankommt. Denn Bludau hat in Elspe früher regelmäßig die Rolle des Shatterhand gespielt, auch an der Seite von Brice. Er war langjähriger Geschäftsführer, hatte beide Rollen zwischendurch an seinen Sohn übergeben – und ist nun doch wieder der Chef, weil der Sohn in seinem Hauptberuf unabkömmlich wurde. Elspe ist so oder so ein Generationenprojekt, auch wenn es in der Geschäftsführung ohne den alten Herrn nach wie vor nicht läuft. Diejenigen, die jetzt mit ihren Kindern kommen, waren früher mit ihren Eltern da. Und die wiederum kommen heute als Oma und Opa mit.
Stammgäste gibt es in Elspe also reichlich; wenn man eine Mail mit Verbesserungsvorschlägen an das Unternehmen schickt, antwortet der Chef deshalb auch gerne schon einmal persönlich. Dabei geht es durchaus um die Liebe zum Detail: Die aktuelle Aufführung zum Beispiel mag zwar keinen Gaststar haben, dafür knallt es auf der soeben für viel Geld neu überdachten Freilichtbühne an allen Ecken und Enden aber umso lauter, explodiert das Dynamit, dass es eine Lust ist – nur für das eine oder andere kleine Kind nicht, dessen Eltern mit dieser Wildheit des Westens nicht gerechnet hatten. Weinende Kinder im Zuschauerraum allerdings will in Elspe bei aller Abenteuerlust niemand; inzwischen gibt es im Kassenraum und im Reservierungssystem einen Hinweis darauf, dass es in diesem Jahr laut werden kann. Dem unkomplizierten Dialog zwischen Chef und Gast sei Dank.
Ohrenstöpsel hat Bludau ebenfalls bereitlegen lassen, für alle, die danach fragen. Denn ohne Knalleffekte geht es nicht; schließlich soll Elspe auch noch langfristig die Youtube-Generation begeistern, die an viel Action und schnellen Schnitten ihren Spaß hat. Leicht ist das Geschäft ohnehin nicht und obendrein noch stark abhängig von der Lage der Sommerferien, in diesem Fall in Nordrhein-Westfalen. Sind die Ferien im Land früh angesetzt, ist das schlecht. Denn dann fehlen die Touristen aus den anderen Bundesländern noch. „Die Ferien sind am 11. August zu Ende, und die letzten Wochen fehlen uns“, sagt Bludau. Hinzu komme, dass sich ein Brice-Effekt nicht feststellen lasse, der die Aufmerksamkeit für die Festspiele noch einmal hätte erhöhen können. Über ein paar Kommentare, vorwiegend auf Facebook, in den ersten Tagen nach dem Tod von Brice bis zu seiner Beerdigung sei es nicht hinausgegangen.
Zum künftigen Umgang mit Gaststars sei man sich im Hause zudem uneins, räumt Bludau ein: „Ich habe die Meinung vertreten, erst mal keinen Gaststar mehr zu verpflichten. Zu uns kommen die Familien als ‚Ganzheit‘, und es gibt heute keinen Star mehr, welcher der ganzen Familie bekannt ist. So haben wir im letzten Jahr bei den Schulvorstellungen gesehen, dass die Kids Martin Semmelrogge gar nicht kannten. Für die Medien ist ein Stargast kurzfristig eine Meldung wert, mehr aber nicht.“
Bludau hat vermutlich das richtige Gefühl für so etwas. Denn der Mann ist die Personifizierung von Elspe, jedenfalls wenn es sich um die Festspiele dreht. Geboren wurde er zwar am 2. Juli 1941 in Krefeld, also am Niederrhein und nicht im Sauerland. Bludau spielt aber schon seit seiner frühen Kindheit als Darsteller auf der Elsper Bühne unter freiem Himmel. Zu Beginn war er im Hauptberuf beim Bundesgrenzschutz, dem Vorgänger der Bundespolizei, sowie als Sozialpädagoge und Grundschullehrer tätig. Im Jahr 1968 übernahm er schließlich die Geschäftsführung der Naturbühne, später auch die Leitung der angeschlossenen Wirtschaftsbetriebe, aus denen das heutige Unternehmen, die Elspe Festival GmbH, entstanden ist. Von 1968 bis 1993 spielte er – neben seiner Funktion als Geschäftsführer – zudem die Rolle seines Lebens, die des Old Shatterhand.
Damit nicht genug: Als Autor schrieb Bludau sämtliche Bücher für die Elsper Bühnenstücke, die auch für Karl-May-Aufführungen in Bad Segeberg Verwendung finden. Und im Jahr 1993 produzierte er gemeinsam mit Hanno Huth die Filmkomödie „Texas – Doc Snyder hält die Welt in Atem“ mit Helge Schneider, die zudem in Elspe gedreht wurde. Bis heute haben mehr als 12 Millionen Menschen das Elspe Festival besucht, über die Bühne galoppieren Jahr für Jahr mehr als 40 Pferde. Die Zuschauerzahlen, die in der Pierre-Brice-Zeit mit mehr als 400 000 ihren Höhepunkt hatten, pendeln sich heute zwischen 180 000 und den in diesem Jahr angestrebten 200 000 je Inszenierung ein. Und zumindest im Sommer sorgt das für Dutzende zusätzlicher Jobs im Sauerland.
Mit den Karl-May-Festspielen selbst werden heute aber nur noch knapp 50 Prozent des von Bludau nicht genannten Umsatzes erzielt. Die restlichen Einnahmen setzen sich aus Merchandising, Betriebsveranstaltungen, Messen und Incentives zusammen – und deshalb ist in Elspe inzwischen beinahe immer etwas los, längst nicht nur im Sommer. Brice ist ein Teil dieses Erfolgs. Aber Bludau ist der deutsche Architekt: fast so wie einst bei Old Shatterhand in den Romanen von Karl May.