Zum neuen Jahr steigt das Porto für einen sogenannten Standardbrief – mal wieder und gleich um 8 Cent auf nun schon stattliche 70 Cent. Mancher wird mit den Achseln zucken und fragen: Wer schreibt schon noch Briefe? In Zeiten von E-Mail, Whatsapp und anderen digitalen Kommunikationsmöglichkeiten ist das ein berechtigter Hinweis.
Viele Dialoge haben sich in jüngster Zeit zwar wieder verschriftlicht, sind aber dennoch flüchtig. Getippt, gelesen, gelöscht; für die Nachwelt ist wenig dabei, was sich aufzubewahren lohnte. Die Mühe, einen echten Brief zu schreiben, macht sich kaum noch jemand. Dafür hat der Wert eines solchen Schriftstücks, wenn es dann doch einmal im Briefkasten landet, erheblich zugenommen, und das liegt nicht nur an den Portoerhöhungen der vergangenen Jahre. Ein Brief ist eben mit Mühe verbunden, die man sich für einen anderen macht. Daher sei an dieser Stelle für alle Weihnachtsbriefe, die in den vergangenen Tagen privat und beruflich eingegangen sind, auf das herzlichste gedankt.
Unter anderem lag ein kleines Päckchen in der Post, das uns in diesem Fall erst kurz vor Silvester erreichte. Darin fand sich ein Buch des inzwischen 90 Jahre alten Göttinger Germanisten Albrecht Schöne, der sich darin Johann Wolfgang von Goethe als Briefschreiber widmet – und dessen Briefe auch als sprachliche Kunstwerke versteht. Das Buch ist im soeben vergangenen Jahr im Verlag C. H. Beck erschienen und trägt den Titel „Der Briefeschreiber Goethe“.
Ein höchst lesenswerter einführender Essay charakterisiert in dem Buch die europäische Briefkultur, auf deren Höhepunkt Goethes Briefwerk entsteht. An dieser Stelle wird deutlich, dass mit den Gewinnen der digitalen Revolution auch große Verluste verbunden sind: „Gott segne Kupfer, Druck und jedes andere vervielfältigende Mittel, so dass das Gute, was einmal da war, nicht wieder zu Grunde gehen kann“, schrieb schon Goethe angesichts verbrannter Notenschriften im Jahr 1816 an einen Freund – und konnte dabei noch nicht im Entferntesten ahnen, wie beinahe exakt 200 Jahre später, zum Jahreswechsel 2015/16, kommuniziert werden würde.
Im Buch folgen darauf neun exemplarisch gehaltene, ausführliche Fallstudien, welche sich mit je einem Brief Goethes befassen. Sie beginnen mit dem ersten Schreiben des 14 Jahre alten Schülers und enden mit dem Brief des 82 Jahre alten Goethe wenige Tage vor seinem Tod – geschrieben an keinen Geringeren als Wilhelm von Humboldt (was das Interesse eines ehemaligen Schülers des früheren Dortmunder Wilhelm-von-Humboldt-Gymnasiums natürlich im besonderen Maße auf sich zieht).
Für alle, die sich in den kommenden Tagen und Wochen mit diversen 8-Cent-Ergänzungsmarken versorgen – und schon kämpfen müssen, um zwischen allen Standardbrief-Postwertzeichen und -Ergänzungsmarken, die sich im stetigen Porto-Erhöhungsreigen daheim inzwischen angesammelt haben, den Überblick zu behalten –, ist es gewiss auch spannend, Schönes Betrachtungen zu den Postverhältnissen der Goethezeit und ihre Bedeutung für die Eigenarten dieses Briefschreibens nachzulesen.
Dort untersucht der Autor die Herstellungsweisen solcher zumeist diktierten, danach durchkorrigierten Texte. Man lernt: Ein Brief wurde damals, jedenfalls dann, wenn es nicht um lapidare Notizen ging, nicht einfach so niedergeschrieben, sondern erarbeitet. Vergleichbares würde dem einen oder anderen Schriftstück aus moderner Textverarbeitungs-Produktion heutzutage auch guttun.
In diesem Licht erscheint die Schreibleistung Goethes im postalischen Schriftverkehr noch beeindruckender als der Blick auf die nackten Zahlen: Ungefähr 24 000 Briefe hat Goethe bekommen, geschätzte 20 000 hat er selbst verfasst und sie an etwa 1700 verschiedene Adressaten gerichtet. Und wer in den vergangenen Tagen die Weihnachtspost geschätzt hat, kann sich im neuen Jahr ja einmal vornehmen, nicht nur zu Weihnachten zu schreiben. Der Wert der Marke allein ist nicht entscheidend.